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Friedhof der Kuscheltiere

7. April 1997

Marionetten zynischer Musikmanager, Projektionsflächen pubertärer Teenager-Phantasien oder einfach nur nette, adrette, liebenswerte Jungs? Das A-Z der Boygroups – von den Backstreet Boys bis Worlds Apart.

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Kennen Sie den besten Freund Ihrer Tochter? Nein, hier ist nicht die Rede von dem pickeligen Knaben aus der Nachbarschaft, der Ihrem Goldschatz ab und an die Schultasche trägt. Sondern von jenem feuchten Traum unruhiger Teenager-Nächte, dem Sie auch schon mal einen verstohlenen Blick zugeworfen haben – prangt er doch als „Bravo“-Fototapete unübersehbar in jedem zweiten Jungmädchenzimmer. Ob der attraktive Schwarm nun Nick heißt, Justin, Eloy, Terry oder Benjamin – Sie können sicher sein, daß sich Ihre Tochter in bester Gesellschaft befindet. Und das in mehrfacher Hinsicht. Millionen Fans weltweit, davon 98 Prozent weiblichen Geschlechts und zwischen 10 und 16 Jahren alt, fliegen auf die Jungs, die die Pop-Industrie mittlerweile im Dutzend auf die willige Kundschaft losläßt – sind sie doch ihre größten und sichersten Umsatzbringer (bei einem geschätzten Taschengeld-Volumen von 35 Milliarden Mark (!) allein in Deutschland). Von den Backstreet Boys bis Worlds Apart, von Boyzone bis No Mercy, von Caught In The Act bis N’Sync bleibt kein Teenagerherz ungerührt. „Die Gruppen wirken nett, freundlich und immer sauber gewaschen“, konstatiert der Wiener Jugend- und Sexualpsychologe Dieter Schmutzer. „Sie sind wie geschaffen für die Altersgruppe ihrer Fans. Schon Männer, aber nicht bedrohlich, nicht unendlich schön, aber herzeigbar, sodaß eine Beziehung mit ihnen wenigstens theoretisch vorstellbar ist. Sie sind sozusagen realistische Fernziele“. Tatsächlich schwören die properen Knaben in einschlägigen Teenie-Gazetten allem ab, was Gott, Vati und Mutti verboten haben: Drogen, Petting, Untreue und brachialen Techno- oder Heavy Metal-Klängen. Die Musik, die aus den Mündern der demonstrativ unschuldigen Hormonbomber erklingt, ist dagegen glatt und anschmiegsam. Aber sowieso nur zweitrangig. „Was zählt, ist die charismatische Verpackung“, wußte schon Robbie Williams von Take That. Das Medium ist die Botschaft, das Kalkül der Ausgangspunkt. Für die professionelle Konstruktion am Reißbrett der Gefühle, die typgerechte Ausstaffierung und zielgruppen-orientierte Vermarktung sorgen immer wieder dieselben abgebrühten Manager – etwa John Wright, der vor den Backstreet Boys und N’Sync schon News Kids On The Block aus der Taufe gehoben hatte, oder Frank Farian, der No Mercy Boney M. und Milli Vanilli voranschickte. Vorläufer der Boyband-Invasion waren aber, neben den Bay City Rollers, Osmonds oder gar den heimischen Teens, letztlich unbestrittene Musikgrößen wie die Beatles oder Rolling Stones, die in den sechziger Jahren für ähnliche Szenen sorgten wie heute „The Dome“ oder eine „Bravo Supershow“ – Kreischorgien, Ohnmachtsanfälle, Ektase zum Quadrat. Aber das dürfen Sie Ihrer Tochter gegenüber niemals zugeben, oder?

Backstreet Boys: A.J., Kev, Howie D., B-Rok und Nik – die unbestrittene Nummer eins der Beliebtheitsskala und die musikalisch fitteste Truppe. Geschockte Eltern und ratlose Lehrer träumen davon, daß die „Auslöser des BSB-Wahnsinns“ (AZ) unter Tonnen von Fan-Kuscheltieren ersticken.

Take That: Als im Februar 1996 die Auflösung der prototypischen Boygroup bekanntgegeben wurde, mußten Telefon-Hotlines für suizidgefährdete Fans eingerichtet werden. Die Herzschrittmacher der Szene – trotz harter Konkurrenz (z.B. East 17).

No Mercy: Latino-Einschlag, Flamencogitarren, stimmige Coverversionen – das Erfolgsrezept von Marty, Gabriel und Ariel, entdeckt vom deutschen Produzenten Frank Farian in Miami.

N’Sync: Sprich: „In-Sink“. Nach der Abwanderung der Backstreet Boys das neue Retorten-Eisen im Feuer bei BMG-Ariola. Aktueller Hit: „Tearin’ Up My Heart“.

Boyzone: „Ich behalte meine Jungfräulichkeit bis zur Ehe“, schwor Ronan, mit 17 der jüngste im Boyzone-Bunde. Nix da: „Bravo Girl“ enthüllte eine heiße Affäre des Iren.

Worlds Apart: kommen aus London, aber ihre größte Fangemeinde findet das Quartett in Deutschland. Schelim, Steve, Nathan und Cal komponieren auch selbst (z.B. „Everybody“).

Caught In The Act: Von radikalen Boygroup-Hassern als „Kotz in the Eck“ denunziert, ist das halb englische, halb holländische Quartett (Insider-Kürzel: „CITA“) ein Fixstern bei „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“-Fans.

(TV MOVIE)

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