Tokyo mon amour: Österreichs Elektronik/Pop-Avantgarde als transkontinentales Import/Export-Unternehmen. Ein Reisebericht.
Fieber. Muß wohl Fieber sein. Draußen herrscht bereits Dämmerung, aber das verstärkt die Wirkung nur. Neonreklamen brennen sich mit der Kraft gleissender Zwergsonnen in deine Pupillen. Eine Nachrichtensprecherin, quadratkilometergroß, lächelt wie eine Madonnenerscheinung, drei Zehntelsekunden vielleicht, wird abgelöst von einem Comic ohne erkennbaren Handlungsfaden. Direkt vor dem Ausgang pastellfarbene Taxis, alles Modelle im Frühachtziger-Look (Retro? echt?), mit weiß behandschuhten, stoisch dreinblickenden Fahrern, aufgereiht gleich Perlen an einer Kette. Ringsum Kleinlaster, die aussehen wie Spielzeug. Du bist eingekeilt in einen Strom von Menschen, leicht taumelnd – niemand nimmt weiter Notiz. Bladerunner City.
Gerade noch machte sich, während du im Fauteil des Narita-Express lümmeltest, leichte Verwunderung breit über das Vororte-Flair, die schier endlos am Fenster des klimatisierten Flughafen-Zubringers vorbeiziehende Ansammlung schmuckloser Schachtelhäuser – und plötzlich materialisiert sich der Kulturschock in Gestalt eines U- und S-Bahnhofs. Shinyuku Station. Laut Reiseführer der meistfrequentierte Verkehrsknoten weltweit. Ihn durchlaufen täglich annähernd soviele Menschen, wie Österreich Einwohner hat.
Nicht gerade der ideale Treffpunkt. Aber die Jungs haben, herrje, Shinyuku Station auserkoren. Welcome to Tokyo.
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Tokyo? Es hätte auch Berlin sein können. Oder London, oder Barcelona. Die Jungs, diese Blase Wiener Electro/Techno/ Pop/Avantgarde/wasweißich-Aushängeschilder, sind schließlich ständig irgendwo zugange. Mal ein DJ-Termin im Underground-Club hie, mal die Teilnahme an einem Festival da. Peter Rauhofer, unter seiner Trademark „Club 69“ House-Remixer von Größen wie Cher oder Madonna, hatte erst zum Jahreswechsel ein Gastspiel gegeben („Die zahlen hier ein Schweinegeld fürs Auflegen“, so der Produzent beiläufig), das berühmte Simon & Garfunkel-Cover von Kruder & Dorfmeister wird, ’97 signiert, im Szene-Plattenladen immer noch in Ehren gehalten. Werner Geier von Uptight hat sich noch für dieses Jahr angesagt. Aber Mitte Jänner ’99, auf einen Schlag, die halbe Crew des Labels Mego vor Ort versammelt zu finden – Peter und Ramon und Tina und Fennesz und Farmers Manual und noch ein paar mehr – und fast die gesamte Mannschaft von Cheap, Patrick Pulsinger, Erdem Tunakan, Constantin Peyfuß und Gerhard Potuznik: diese fernöstliche Kräftezusammenballung übersteigt klar das Maß des Üblichen. Hat hier irgendjemand eine Gruppen-Abenteuerreise gebucht?
Die Antwort: das mit Tokyo ist doch kein Zufall. Die unglaubliche Detailbesessenheit der Japaner, ihre Aufmerksamkeit, ihre Vorliebe für Exoten, ihr Drang nach Authentizität macht die Insel zu einem natürlichen Biotop für Paradiesvögel aus dem Lande Pop. Früher oder später mußte die Blase hier landen. Wo sonst, außer in einschlägigen japanischen Magazinen mit Titeln wie „Remix“, „Fader“ oder „ele-king“, könnte man seitenweise Rezensionen und Empfehlungen heimischer Produktionen nachlesen, darunter beileibe nicht nur die obligatorischen „K&D Sessions“? Hier werden Curd Duca abgefeiert und MC Sultan, Cube & Sphere, Texta und EPY, und sogar solch ein enorm verschrobenes Produkt wie die Fan-Hymne „Anton Polster, Du bist leiwand!“ von DJ DSL (Katalognummer Mego 026, Vinyl-Single, Auflage: 1000 Stück) findet Erwähnung und Interesse. Da steht das erste Album der Sofa Surfers so selbstverständlich im Regal von Tower Records wie der Pulsinger-Klassiker „Porno“. Und die Künstler-Biografien kennen die Fans hier besser als die Künstler selbst. „Zynismus geht den Japanern vollkommen ab“, so Mego-Chefideologe Peter Rehberg. „Und der Respekt, der einem entgegengebracht wird, ist tatsächlich zehnmal größer als in Europa.“
Nippon Telecom hat die „musikalischen Grenzlanderforscher“ (Der Standard) eingeladen, sich mit Live-Konzerten, Uni-Vorlesungen und Workshops vorzustellen. Rehberg und der Rest der Bande machen daraus gleich eine mehrwöchige Japantournee. Pulsinger & Co. ziehen als Aufhänger für die Exkursion dagegen zwei CD-Werkschauen heran, die extra für den japanischen Markt zusammengestellt wurden – „Have A Cigar My Friend“ und „Five Years In Satans Ass“. Unter diesem herzlichen Motto soll auch die Cheap-Allstar-Combo Sluts’n’Strings & 909 auftreten. Man ist gespannt. Alltäglich ist so ein Gig in Tokyo dann auch wieder nicht.
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This is Powerbook business. Egal, ob es sich um das Mego-Tonlabor handelt oder die Prog-Boygroup um Patrick Pulsinger – das Instrumentarium besteht zu neunzig Prozent aus schwarzen G3-Laptops der Marke Apple. Man betritt locker, da leichten Gepäcks, den Ort des Geschehens, klappt seine Maschinerie auf wie Geschäftsreisende ihre Aktenkoffer, und ab geht die Post. Mehr oder weniger. Das verblüfft selbst die Insider-Gemeinde, die sich im Glas-Marmor-Zukunftsmuseum ICC versammelt hat, um andächtig dem Krachen und Knarzen und Sirren der Mego-Spieler (samt fremden und einheimischen Gästen) zu lauschen. Es riecht ein wenig streng in dieser Nische, nach der anämische Seriosität des internationalen Kunstbetriebs. Aber Leute wie Rehberg und Ramon Bauer und Jim O’Rourke sind alles andere als blasse Akademiker. Schon wenige Tage später, im Star Pines Café und im Ufo Club, kriegen sich die Mädels nicht mehr ein. Sie lassen sich Peter Rehbergs e-mail-Adresse auf nackte Haut notieren. „Nichts gegen Kyoto“, so Rehberg. „Wir mußten alles signieren. Tonnen von Tonträgern, Mobiltelefone, CD-Player, einfach alles.“ Kurz denken einige Mego-Abgesandte daran, ihr Rückflugticket verfallen zu lassen.
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Wenn die Wiener Volksoper die antiquierteren Stücke aus ihrem Kulissendepot nach Japan verfrachtet und sich, sagen wir mal, Nissan als Generalsponsor anbietet, rührt das Franz Endler & Co. ans goldene Schreiberherz. Kulturexport! Identität! Renommé! „Da scheißt der Bär drauf“, so der knappe Kommentar von Potuznik. Die „global players“ dieser Kultur-Hemisphäre sind keine Abgesandten eines hochsubventionierten Nationaltheaters, keine Sendboten einer kitschigen Patriotismus-Revue, sondern Reisende in eigener Sache. Die Sache heißt: Electronic Culture. Sie kennt keine Grenzen, keine Nationalitäten, keine Herkunftsdünkel. Ein Netzwerk weltweiter persönlicher Kontakte, gesponnen quer durch das Internet, ermöglicht nicht nur den Austausch von Ideen und Arbeitsresultaten, sondern macht auch Expeditionen wie diese möglich. Selbst der vieldiskutierte „hype“ um die Wiener Elektronik-Szene verblasst mit jedem Kilometer im Flugzeug mehr und mehr, zum pragmatischen Lebenszeichen. Nur was existiert, kann wahrgenommen werden. Nur was wahrgenommen wird, existiert. Gerhard Potuznik trifft vor Ort erstmals Sam & Valley, jenes japanische Künstlerduo, das erst wenige Wochen vorher in Wien eine CD veröffentlicht hat. Auf Potuzniks Label. Es ist, wie man sich denken kann, eine herzliche Begegnung.
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Shinjuku-ku, eines der belebtesten Viertel von Tokyo (jeder der 23 Bezirke hat etwa die Größe von Paris), besitzt nicht nur eine beeindruckende Dichte von Wolkenkratzern und Luxushotels, sondern auch weniger mondäne Ecken. „Sound Of Speed“ verheißt ein eilig gesprühter Banner am Eingang des Clubs. Der Taxifahrer hat erst nach längerer Irrfahrt hierher gefunden. Nebenan ein Parkplatz, schwach erleuchtet von den allgegenwärtigen Getränkeautomaten. Innen verwandelt ein Dutzend Partyprofis den kargen Industriebau behende in einen zweigeschossigen Hedonistentempel. Alufolie an den Wänden, Gazeverhaue, blaues Neonlicht. Im unteren Stockwerk, in der Bar links der obligatorischen Technics-Laufwerke und neuen Pioneer-Effekteinheiten, dreht MTV Asia noch ein rasches Interview. Taki alias Dubsonic, eine Figur wie aus einem Manga-Comic, wird von Erdem spontan unter Vertrag genommen. „We have a lot of sexy girls for you in Vienna“. Lachen, Händeschütteln. Gegen Mitternacht ist der Club brechend voll. Und wieder herrscht Staunen, als Pulsinger und Tunakan und Potuznik einfach nur ihre Powerbooks aufklappen und ohne große Umstände loslegen. Peyfuß operiert im Hintergrund – sofern man auf der kleinen, improvisierten Bühne von einem Hintergrund sprechen kann – an einem Weltempfänger. „Travel on… travel on“. Gedränge. Schweiß. Bewegung. Unzählige Videokameras in Aktion. Potuznik und Pulsinger, mit schmalem Schlips, am Mikro. „Travel on… travel on“. Einen Moment lang sehe ich Kraftwerk auf der Bühne stehen. Muß immer noch das Fieber sein.
Man sagt mir später, alle hätten das Konzert als vollen Erfolg empfunden.
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Geschlafen wird, mit Familienanschluß, im Fünferpack in der illegalen Wohnung der Clubbetreiber. Das ist kein Gastspiel der Staatsoper. „Alles basiert auf persönlichen Beziehungen“, merkt Patrick Pulsinger an. „Gelegentlichen Beschwerlichkeiten zum Trotz ist mir das lieber, als in anonymen Hotelzimmern rumzusitzen.“ Vom Minidisc-Player kommt der Konzertmitschnitt von vorgestern. Chill-Out ist angesagt. Wenige Stunden zuvor war man noch im „Planetarium“ herumgehangen, einem Mittelding aus Hippie-Zeltlager, Bio-Restaurant und Opiumhöhle. Spezialität: Pilztee. Die Japaner sind gnadenlos. Sie reizen alles bis ins Extrem aus – egal, ob es sich um die Imitation westlicher Popkultur handelt (Abteilungen mit sogenanntem „J-Pop“ füllen ganze Kaufhaus-Etagen) oder halluzinierendes Kommunengebaren, Berlin, ca. 1969. Hiroki Takeda, ein freundlicher Journalist, ist am Telefon. Er bietet eine Exkursion zum Tokyo Tower, einem Nachbau des Eiffelturms, an. Dort hat irgendein verrückter Millionär ein Wachsfigurenkabinett eingerichtet, mit Nachbildungen deutscher Krautrock-Legenden wie Klaus Schulze oder Amon Düül.
Klingt nach ultimativem Fieberwahn. Aber draußen regnet es, der Flieger geht in wenigen Stunden und niemand hat mehr Kraft. Spätestens in einem Jahr, wenn sie Maß nehmen für die Wachsfiguren von Pulsinger und Rehberg, sind sowieso alle wieder da.