10 Gründe, warum Stermann & Grissemann beim Eurovisions-Songcontest antreten müssen.
1) Weil S&G tatsächlich die einzigen sind, deren Antreten für Österreich Sinn macht.
Bei nüchterner Betrachtung ist die Sache so: der Songcontest ist ein aufgeblasenes Nichts, ein Belustigungs-Spektakel für ca. 1,4 Milliarden Couch-Potatoes weltweit und ein professionelles Sackhüpfen um einen Titel ohne Mittel. Oder? Hat irgendjemand irgendwo mit Stolz einen Songcontest-Beitrag aus seiner Plattensammlung gefingert? Oder kann sich noch jemand an dieses estnische Gewinner-Lied samt Interpreten aus dem Vorjahr erinnern? Eben. Okay, ABBA und Celiné Dion, man kennt diese Argumente. Und Udo Jürgens. Sowieso.
Aber es geht anno 2002 längst nicht mehr um Chansons. Oder Lieder. Oder das Prinzip Pop. Oder Musik im weitesten Sinn. Sondern schlichtweg um Brot & Spiele, ein Gladiatorenspektakel, das die Stämme und Völker und Nationen Europas in einer virtuellen elektronischen Arena vereint. Und lustvoll entzweit. Nordische Staaten gegen romanische, das Baltikum ohne Rücksicht auf Zypern, England gegen den Rest der Welt, und – legendär! – Österreich gegen Deutschland. Wenn diese Faktoren überhaupt je von Belang waren: Qualität oder Originalität – im künstlerischen Sinn – haben keine Chance (mehr), seit das Publikum europaweit zum Telefon greifen und abstimmen darf. Es ist ein hedonistisches, chauvinistisches, nationalistisches, idiotisches Hickhack mit ein wenig Begleitmusik. Nicht mehr, nicht weniger. Österreich hat, auch wenn es mit einer Komposition von Mozart, dem Zitherspiel eines Anton Karas (samt Raps von Falco) oder dem Sirenengesang eines weiblichen, prallbusigen DJ Ötzi anträte, nicht den Funken einer Chance. So oder so.
Also heißt der Ausgangs- und Endpunkt: respektabel verlieren (ein letzter Platz mit null Punkten: fein!). Oder stoisch Ruhe und Würde bewahren. Oder die üblichen Regeln und „Erfolgs“-Kriterien schlichtweg ignorieren (sofern man sich einmal entschieden hat, den Songcontest an sich nicht zu ignorieren – aber dazu müßte man heutzutage Autist oder Einsiedler sein). Am besten alles zusammen. Es gilt, wenn überhaupt, einen gewissen – eventuell verstörenden, jedenfalls denkwürdigen – Eindruck zu hinterlassen. Spuren in der Songcontest-Historie. Einen Nachhall im Medienstadl. Eine Implosion im tiefschwarzen Kultur-Universum. Bunte Bilder und schräge Fratzen in den Albträumen und Erinnerungen der Playstation-Generation.
Wie könnte das gelingen? Ein paar Fingerzeige. Weil Stermann als geborener Deutscher a) alle deutschen Stimmen auf sich vereinen wird, b) dem liebevollen Paar Ster- & Grissemann die Sympathien der homosexuellen Songcontest-Gemeinde europaweit gehören (obwohl sie sich zu ausgeprägter Heterosexualität bekennen), c) die Botschaft vom „schönsten Ding der Welt“ (teils in Englisch gehalten!) nicht zu überbieten und kosmopolitisch anrührend ist, d) mit Stermann & Grissemanns „Haider-Affäre“ durch den einen oder anderen Journalisten eventuell auch ein weniger kitischiges und klischeehaftes Stück Österreich medial aufgetischt wird und e) die Sache mit dem Parallel-Singen-und-Moderieren, sofern sie in Tallinn auch technisch und politisch durchfechtbar ist, natürlich „unique“, spektakulär und publicityträchtig ist – deshalb z.B. sind Stermann & Grissemann die einzigen, die eine Chance haben. In, aus und für Österreich. Ernsthaft. Wenn’s ned blunzenwurscht wär‘.
2) Weil S&G von der internationalen Entertainment-Mafia dazu gezwungen werden.
Die grösste Plattenfirma der Welt. Das meiste Geld der Welt. Das cleverste Produzenten-Team der Welt. Die schicksten Designer-Anzüge der Welt. Das gnädigste Mikrofon der Welt. Das beste Publikum der Welt. „Das schönste Ding der Welt“. Noch Fragen?
3) Weil das Songcontest-Experiment von S&G kein Schmäh ist, sondern Resultat eines grausamen künstlerischen Ringens mit sich selbst.
Das ist keine Kabarettveranstaltung, dieser sog. „Songcontest“. Das ist bitterer Ernst. Es wird eine jämmerliche, unausgegorene, schizophrene Angelegenheit werden, der Auftritt bei der – natürlich jämmerlichen – Ö-Songcontest-Vorausscheidung, kein Mensch weiß, was passieren wird (im schlimmsten Fall: nichts) und wie eine Live-Inszenierung von S&G denn aussehen soll. An Tallinn wagt im Moment niemand zu denken. Es hat Blut, Schweiß & Tränen gekostet, diese tatsächlich besoffene Idee („Warum moderieren wir immer nur den Songcontest, warum fahren wir nicht einfach hin, bevor wir den Krempel ganz hinwerfen?“) irgendwie in die Realität umzusetzen. Die beiden standen, wie diversen Gazetten zu entnehmen war, kurz vor der Trennung, und sie geben nichts auf den Songcontest. Die FM4-Moderation ist S&G wichtig, sonst kaum etwas. Aber selbst die treuesten FM4-Hörer wären anno 2002 enttäuscht, wenn Stermann & Grissemann „nur“ aus dem Radiolautsprecher plärren würden.
4) Weil S&G dem müden Songcontest-Spektakel eine ganz neue Medien-Dimension verleihen.
Weil der Live-Auftritt auf der Songcontest-Bühne (oder der Ö-Vorausscheidungs-Bühne) nur Teil eines Gesamtkunstwerks ist. Eines Happenings. Einer Multimedia-Inszenierung. Im Zentrum steht die – längst Kult gewordene – Radio-Tonspur zum Spektakel. Und natürlich sind die beiden auch heuer wieder für FM4 live on air. Es ist, wie wenn Heinz Prüller erstmals selbst mit einem Go-Kart mitfahren würde in der Formel 1. Und dabei, wild am Lenkrad drehend, in ein Mikrofon prüllern tät‘. Die Teilnahme am Spektakel als ultimative, intimste, gewagteste Form des Kommentars. Ein Meta-Kommentar. „G’scheit daherreden kann ma bald“, so der Volksmund. „Dabeisein is alles“.
Unter uns: man bewegt sich mit diesem – so noch nicht dagewesenen Konzept, weder national noch international – ungebrochen auf dünnem Eis. Bis vor wenigen Tagen war unklar, ob der ORF eine parallele Moderation des Ereignisses für FM4 zulassen würde. Für das Duo war/ist diese „denkbar spannendste Form des Kommentars, der Beobachter ist ja Teil des Laborversuchs “ (Dirk Stermann) eine wesentliche Voraussetzung der Teilnahme an der Österreich-Vorausscheidung. Nach Einholung der Zustimmung aller Konkurrenten und Überwindung einiger technischer Schwierigkeiten dürfte dem Vorhaben aber nichts mehr im Wege stehen. „Wir hoffen nur“, so Stermann, „daß unser Gesang die Moderation nicht allzusehr stört“.
5) Weil S&G aus einer Schmierenkomödie eine Schmierentragödie machen.
Ja, Ironie hat ihre Grenzen. Und Lustigkeit hat erst recht eine Grenze: die zur Halblustigkeit hin. Aber wer kann, soll, darf, muß die Grenze ausloten? Ster- & Grissemann würde man schon in die engere Auswahl nehmen. Ösi-Larmoyanz meets Entertainment-Biz (oder eine lachhafte Imitation davon). Eine brisante Mischung. Oder einfach ein gewagtes Experiment. Eventuell ein fahrlässiges Experiment. „Ich weiß bis heute nicht, warum wir uns das antun und was das alles soll“, räsoniert Christoph Grissemann. „Daß sich Stermann in solche Niederungen des Showgewerbes herablassen würde, stimmt mich traurig. Ich werde es ihm – und mir – bis ans Ende unserer Tage nicht verzeihen. Vielleicht…“. Der Satz erstickt in einem trotzigen Hustenanfall.
6) Weil jemand gegen dieses sinnentleerte Spektakel Songcontest protestieren muß. Auch gegen die Teilnahme von S&G.
„Dies ist ein beinhartes Protestlied. Es richtet sich gegen jedermann, der sich betroffen fühlt, auch gegen mich selbst…“. Hat einmal ein österreichischer Maler und Nebenerwerbs-Austropopper namens Arik Brauer gesungen. Der Mann braucht Leute, die in seine Fußstapfen treten (oder in die Hundescheisse daneben). Stermann & Grissemann sagen, leger modernistisch-kosmopolitisch: „It’s a dirty job but someone’s gotta do it“. Ein beinhartes Protestlied, auch gegen sich selbst gerichtet, vor einer Milliarde Zuseher – das hat doch was. Nur so machen Protestlieder Sinn. Wenn überhaupt.
7) Weil S&G nicht Stefan Raab, Knorkator, Guildo Horn oder die Kelly Family sind. Eben nicht.
Stefan Raab ist lustig. Manchmal. Im Fernsehen. Manchmal sogar auf Platte. Eher selten. Die offensive Aufdringlichkeit und clevere Pop-Drolligkeit (Top-Prolligkeit?) dieses Herrn, der hier stellvertretend für die „Spaß-Fraktion“ steht, besitzen Stermann & Grissemann einfach nicht. Nicht einmal ansatzweise. Auch nicht die verschmitzte Abgebrühtheit. Oder den schlaumeierischen Geschäftssinn. Von den musikalischen Talenten und Fähigkeiten ganz zu schweigen.
Stermann & Grissemann sind nicht lustig. Sie treiben nicht, auch nicht in ihrer ureigensten Profession – sie sind Getriebene. Oder auch das Gegenteil davon. Antriebslos, irgendwie. Nicht uninteressiert, aber defensiv. Kommentatoren eben. Statisten, Kommentatoren und Akteure gleichzeitig . Die Musik ist ihnen immer irgendwie zwischen die Worte gerutscht. Nicht unabsichtlich, nicht unglücklich, nicht ohne Geschmack gewählt (und kommentiert). Irgendwie „passiert“ halt. Das gilt auch jetzt wieder, in aller Konsequenz.
Stermann & Grissemann passiert es irgendwie, an einem Chanson-Festival teilzunehmen. Stermann & Grissemann passiert es irgendwie, in Tonstudios vors Mikrofon gebeten zu werden. Stermann & Grissemann passiert es irgendwie, sich zwischen „Stereophonics“ und „STS“ im Virgin Megastore eingereiht zu finden. Hat etwas von einem Jacques Tati-Film.
Und die Tonspur dazu? Wenn die schon sein muß, dann so: „Es soll kein billiger Witz á la Stefan Raab werden“, so Dirk Stermann im September 2001, in einem ersten Hirtenbrief zum Thema. „Wir denken an Pathos, Kitsch und Streichorchester, und das ist nicht ironisch oder zynisch gemeint. Für einen Geniestreich geben wir uns freiwillig her, aber wir kennen weder die Mittel dazu noch irgendwelche Kriterien dafür“. Stefan Raab wäre an einer solchen Aufgabenstellung verzweifelt.
8 ) Weil S&G einfach das schönste Ding der Welt am Start haben.
Daß S&G, nach mehrmonatigem Zick-Zack-Lauf zwischen absurder Euphorie und akuter Depression, nun tatsächlich soetwas wie ein Lied vorweisen können und auch in Umlauf bringen wollen, stand ja überall schon zu lesen – von profil bis Falter, von Rennbahn-Express bis ÖKM. „Das schönste Ding der Welt“, so der verheißungsvolle Titel des musikalischen Jahrhundert-Machwerks, ist von Fritz Ostermayer komponiert und von ebendiesem auch arrangiert, im Verbund mit einigen der üblichen Verdächtigen der österreichischen Underground-/Elektronikszene, z.B. Peter Cornelius, Kruder & Dorfmeister und Sigi Maron (names have been changed to protect the innocent).
Wie das klingt, das „schönste Ding der Welt“? Na sehr, sehr schön eben. „Es handelt sich um ein Kinderlied für Erwachsene“, so Ostermayer. „Oder ein Erwachsenenlied für Kinder. Egal. Punkmusik für Melancholiker hat keinen Namen. Marschmusik für Lahme und Krüppel auch nicht“.
Die CD-Single „Das schönste Ding der Welt“ wird demnächst bei Universal (der größten Plattenfirma der Welt) erscheinen und soll schönes Beiwerk enthalten. Gerüchteweise ist von einem grausamen, brachialen musikalischen Songcontest-Delirium und einer sehr sanften, Element Of Crime-mäßigen Chanson-Variante die Rede. You gonna hear it on FM4. Auch Georg Danzer soll mitmischen, irgendwie. Vielleicht hört man das dann auf Radio Niederösterreich.
9) Weil dem schönsten Ding der Welt noch ein paar schöne Dinger folgen könnten.
Nebenher, das hat sich eventuell schon rumgesprochen, wird auch an einem Album (!) gearbeitet. Der Arbeitstitel liegt auf der Hand: „Die schönste CD der Welt“. Der Untertitel gibt mehr Hinweise: „47 mögliche Songs für den Songcontest 2002 plus 5 Bonus-Hits und 2 abwegige Skizzen, dazu Gastauftritte von Georg Danzer, Bobbie Singer, George Harrison und Projekt X, ein exklusives News-Interview sowie Einsprengsel bekannter österreichischer Avantgarde-Künstler. Außerdem noch 1 Hidden Track (geheim)“. Man wird sehen. Vor allem hören. Noch ist alles unklar, unverdorben, unsicher. Bis auf eins: „Wir können überhaupt nicht singen“ so Stermann. „Aber wir machen kein Hehl daraus, sondern eine Platte“. .. Eventuell. Hängt noch von einigen Details ab. Millionenvorschuß, Studio auf den Bahamas, Kreativloch, Leberzirrhose, Sackjucken, der übliche Scheiß. Man darf gespannt sein.
10) Weil man, worüber man nicht reden kann, singen muß.
„Ohne Musik ist das Leben ein Irrtum“ (Friedrich Nietzsche)