„PopKomm“ oder „PopGone“? Die Musikindustrie gerät immer tiefer in die Krise. Der Computerhersteller Apple hält die Blaupause zukunftsträchtiger Internet-Musik-Tankstellen dagegen: den „iTunes Musicstore“.
Stell’ Dir vor, es ist Krieg, und alle gehen hin. Zwar wirkt der Kriegsschauplatz vordergründig wie ein Rummel- und Tummelplatz der guten Laune, aber das gehört zur Folklore der Branche. Hinter den Kulissen fliegen die Fetzen, auf vielen Stirnen steht der Angstschweiß. Entertainment, voilá, Untersparte Musik.
Wir schreiben das Jahr 2003, und kundige Beobachter raunen bereits vom „Ende der Musikindustrie“. Ist das nicht ein wenig vorschnell, tolldreist, zumindest überzogen? Immerhin: noch lockt eine Veranstaltung wie die dieswöchige „PopKomm“, vormals die größte Musikmesse der Welt, ein paar tausend Manager, Händler, Künstler und Fans an. Doch allein der Umstand, daß die „PopKomm“ nach langen Jahren zum letzten Mal in Köln stattfindet, weist auf einen Umbruch hin. Anno 2004 geht es nach Berlin. Eine Zieldestination, die sogar dortselbst ansässige Kommentatoren höhnische Begleitschreiben abfassen ließ. Die Hauptstadt mit der höchsten Arbeitslosenrate Deutschlands, hieß es etwa sinngemäß in der „Berliner Zeitung“, treffe auf die Branche mit der größten Krisenbilanz. Beiden gehe allmählich die Kohle aus, das passe doch allemal zueinander. Die Kölner planen derweil schon den feuchtfröhlichen Abschied von der Schimäre, der Nabel der globalen Musikwelt zu sein. Für Sonntag, 21 Uhr, ist ein Kehraus unter dem bezeichnenden Titel „PopGone“ geplant.
Schluß mit lustig? Zumindest handelt es sich um den Anfang vom Ende des traditionellen Tonträgers. Um die tiefgreifendste Revolution seit der Erfindung des Phonographen. „Die Branche muß sich bald komplett neu erfinden“, weiß Sony Music-Chef Balthasar Schramm. Digitalisierung, Internet, CD-Brenner und Download-Formate wie MP3, die längst zum Alltagsinventar der Zielgruppe gehören, stellen die Spielregeln, Strukturen und Vertriebskanäle der Unterhaltungsbranche auf den Kopf.
Um 11,3 Prozent ging der Umsatz der deutschen Tonträgerindustrie im Vorjahr zurück, Österreich kam vergleichsweise mit einem blauen Auge (minus 7,9 Prozent) davon. 260 Millionen Euro wurden 2002 hierzulande für Tonträger ausgegeben, aber erstmals überholte die Zahl der verkaufte CD-Rohlinge (24 Millionen) jene der vorbespielten Musik-Disks (19 Millionen). Die Industrie mutmaßt, das der größte Teil davon für die Herstellung von CD-Kopien verwendet wird. Die Legalität dieses Treibens ist, trotz verbrieften Rechts auf eine „Privatkopie“, mehr als umstritten. Nun sind verschärfte Gesetzesregelungen in Kraft getreten, das Umgehen des Kopierschutzes oder der Verkauf sogenannter „Crack-Software“ stehen unter Strafandrohung. Die Musikindustrie geht parallel dazu zunehmend agressiv gegen Peer-to-peer-Piraten vor. In den USA wurden mittlerweile dutzende Studenten verklagt, teilweise auf absurde Millionenbeträge, tausenden flatterten Abmahnungen und Warnbriefe des Industrieverbands RIAA ins Haus. In Deutschland und Österreich begnügt man sich – noch – mit vergleichsweise kleinen Fischen und Abschreckungsrhetorik. Experten meinen einen ersten leichten Rückgang des Gratis-Musikkonsums prognostizieren zu können, immerhin. Trotzdem machen sich die Plattenbosse auf eine weitere Talfahrt gefasst. Die zudem – es geht schon das sechste Jahr in Folge bergab – immer rasanter wird: für 2003 weisen die bisherigen Umsatzzahlen ein deutlich zweistelliges Minus aus.
Auch Hype-Spektakel wie „Starmania“, „Deutschland sucht den Superstar“ und eine mittlerweile kaum überschaubare Anzahl von Fortsetzungen und Ablegern der neumodernen TV-Talenteschuppen bringen nur begrenzte Entlastung. Zu definitiv ist das Verglühen der Sternschnuppen im Medienorbit, zu durchsichtig die Bekenntnis zum langwierigen Aufbau wirklicher Stars. Auch wenn Sony-Mann Schramm in „Spiegel Online“ bedauert, daß „Musik immer weniger aufregend und emotional ist und immer mehr zum Hintergrundrauschen verkommt“, wurde die Österreich-Filiale, lokalen Enthaltungstendenzen zum Trotz, angewiesen, sich gefälligst um eine „Starmania“-Kooperation mit dem ORF zu bewerben. Vergebliche Liebesmüh’. Den Jackpot holte wieder der Branchengigant Universal. Auch in der Schweiz ist die bewährte Kombination aus ORF-Konzept, Fernseh-Dauerwerbetrommel und Universal-Deal der Hebel, einen eidgenössischen Michi Tschuggnall oder ein CH-Stürmer-Äquivalent zu erschaffen. Deutschland dagegen ist, bis auf „Starsearch“, fest in Bertelsmann-Hand. Daß man am Küniglberg das weltweit erfolgreiche Konzept des „Pop Idol“-Erfinders Simon Fuller ebenso selbstbewußt wie ungeniert adaptierte, ohne allerdings Bertelsmann Lizenzgebühren zu zahlen, mußten BMG-Zampano Thomas Stein und RTL-Chef Gerhard Zeiler widerwillig zur Kenntnis nehmen. Man sitzt, Quoten nach Noten, irgendwie ja doch im selben Boot.
Für das Fernsehgeschäft kann und will Janko Röttgers, ein in Los Angeles lebender deutscher Medienjournalist, keine Prognosen abgeben. Für die Musikbranche sieht er allerdings schon mittelfristig schwarz. „Mix, Burn, R.I.P.” heißt ein brandaktuelles Buch aus Röttgers Feder, das auf der „PopKomm“, noch druckfrisch, jede Menge Leser finden dürfte. Denn der Autor prophezeit nicht weniger als den totalen Untergang der Tonträgerindustrie.
„MP3s, Tauschbörsen und die jetzt einsetzenden Verkaufseinbrüche“, so Röttgers, „sind nur Vorboten einer sehr viel umfassenderen Krise, an deren Ende der Zusammenbruch einer gesamten Branche stehen wird. Parallel dazu entwickelt sich seit Napster eine neue Form der Musikwirtschaft, die an Stelle von Tonträgern und Charterfolgen auf das Internet und Filesharing setzt.“ Die traditionelle Wertschöpfungskette hätte sich überlebt. Die Botschaft des engagierten Netz-Beobachters wird in Köln auf wenig Freude stoßen. „Dank Kazaa & Co. konsumieren heute Millionen von Menschen viel mehr und viel spontaner Musik als je zuvor. Ein-Euro-Downloads (wie etwa im Apple iTunes Musicstore, siehe Kasten) können damit nicht konkurrieren“. All-you-can-eat-Angebote, sprich: Abonnements, wie sie die Konkurrenz noch recht zögerlich anbietet, würden zwar Sinn machen, erweisen sich jedoch in der Praxis als ruinöse Investitionen. Ein für die Industrie, so Röttgers, unlösbares Dilemma.
Spiel mir das Lied vom Tod? “Es ist der Kampf der Kathedrale gegen den Basar”, formuliert es der „Free Music“-Ideologe Ram Samudrala pathetisch. Kampflärm ertönt mittlerweile auch an Nebenkriegsschauplätzen. So wird hierzulande von der Politik, namentlich Kulturstaatsekretär Morak, unter dem Schlagwort „Stärkung des geistigen Eigentums“ eine rasche Nivellierung des österreichischen Urheberrechts gefordert. Ebenso macht sich die Musikwirtschaft für eine Senkung des „wettbewerbsverzerrenden“ hohen CD-Mehrwertssteuersatzes von 20 Prozent stark. Kulturgüter wie Bücher, Zeitungen, Kino, Theater, Konzerte seien ja, so die Argumentation, auch nur mit zehn Prozent belastet.
Trockene Materie im Vergleich zum brisanten Thema „Radioquote“. Denn die Entwicklung der Debatte in Deutschland – hier hatten sich zuletzt, ganz im Einklang mit den Spitzen der Industrie, Ex-Kultursstaatsminister Julian Nida-Rümelin, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und bayerische CSU-Lokalpolitiker für mehr deutschsprachige Heimatklänge in den Radioprogrammen ausgesprochen – wird mit Verzögerung auch in Österreich ihren Niederschlag finden. Tatsächlich ist der Mainstream-Dudelfunk (Standard-Werbespruch: „Die größten Hits der Achtziger, Neunziger und von heute“) das erklärte Feindbild von Plattenbossen ebenso wie von Nachwuchsmusikern, die weit und breit keine Präsentationsplattformen für neue Klänge ausmachen. „Das Radio war einst Fenster zur Welt“, klagt etwa der „Musikergilde“-Initiator und Ex-Falco-Gitarrist Peter Paul Skrepek. „Es ist zu einer Provinzbühne für Waschmittelpropaganda verkommen“. Ohnmächtigerweise ist Skrepek auch ORF-Publikumsrat. Gerd Gebhardt, Vorsitzender der deutschen Phonoverbände, schlägt vor, mit einer 50:50-Quote gegenzusteuern. Fünfzig Prozent neue Songs, die etwa den ewig schmachtenden Phil Collins ablösen könnten, die Hälfte davon wiederum deutschsprachig. „Wir brauchen ein Radio mit Format und kein Formatradio“ (Gebhardt). Vor allem Privatfunker rüsteten umgehend zur Abwehrschlacht gegen Zwangsbeglückung. Die Einsicht, daß solch sensible Materie vor allem Goodwill auf allen Seiten benötigt, führt mittlerweile zu Skurrilitäten wie der in einem Branchenmagazin erhobenen Forderung nach einer „freiwilligen Zwangsquote“.
Letztendlich dürfen all diese Initiativen unter der dem Übertitel verzweifelter Geschäftsankurbelung verbucht werden. Doch der Trend degradiert den physischen Tonträger, an den sich die Gralshüter des tradierten Geschäftsmodells letztlich klammern, mehr und mehr zum nostalgischen Relikt, den Gang ins Plattengeschäft oder zum CD-Dealer zur „sentimental journey“. HiFi-Magazine, die Zentralorgane engagierten Musikgenusses, sind mittlerweile voll mit Anpreisungen putziger Festplatten mit Kopfhöreranschlüssen (á la iPod, dem Apple-MP3-Player, der laut „Stuff“ dasselbe Kultpotential besitzt wie seinerzeit der Sony-Walkman), futuristischen File-Wurlitzern und Radios, die sich ihr Programm drahtlos aus dem Internet holen. High Fidelity wird zu “new-fi”, zur New Fidelity, einem technikverliebten, optimistischen Vorwärtsdrall.
Als Chance für die gesamte Branche könnte sich ein simpler Umkehrschluß erweisen: wenn die CD aus der Mode kommt, kommt auch die raubkopierte CD aus der Mode. Neue Geschäftsmodelle sind auch für die vormaligen „Plattenfirmen“ der Silberstreif am Horizont. Legale Download-Tankstellen kommen, spät, aber doch, allmählich in Schwung. Die Software-Firma Roxio kündigte etwa für Winter die – natürlich der Piratenromantik beraubte – Wiedergeburt von „Napster“ an. Auch die deutsche Musikindustrie scheint sich, nach langem Hadern, untereinander und mit der Telekom eins: ein Nachfolgeprojekt zu „popfile“ sollte eine probate Alternative zu Steve Jobs „Good Karma“-Kanal iTunes abgeben. Für betuchte Traditionalisten forciert man Mehrkanal-Surround-Tonträger wie die SACD oder die DVD-Audio. UMTS- und Wireless Broadband-Dienste will man mit Add On-Services aufpeppen. Das Fachchinesisch steht für eine Palette an Dienstleistungen, die Töne aller Art zukünftig jederzeit und überall verfügbar machen werden – etwa via Handy oder Pocket-PC – und die man nach Lust und Laune um Bilder, Texte, Interviews, also Geschmacksverstärker aller Art, wird ergänzen können. Bezahlt wird pauschal oder auf Abruf, mit Minimalbeträgen, die sich schnell – siehe SMS und Klingeltöne – zu beträchtlichen Summen addieren.
Egal, ob die Zukunftsmusik via Handy, Funknetz oder Download ertönt: die Taschengeld-Raubritter sterben nicht aus, mit Garantie.