Archive for September, 2005

Asche zu Asche, Staub zu Staub

28. September 2005

Kurios: während die Branche im Digital-On Demand-Online-Download-Fieber liegt, halten manche dem Vorläufer der Compact Disc die Stange. Und es sind nicht (nur) kuriose HiFi-Käuze in den Mittfünfzigern. Sondern junge, hippe Pop-Apostel. Kehrt eventuell noch die Schellack-Platte zurück?

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Warner Music will, lese ich, ein Digital-Label aufmachen, das auf herkömmliche Tonträger verzichtet und neue Werke von neuen Künstlern nur mehr per Download anbietet. Auch Universal hat derlei in Aussicht gestellt. Konsequent, meine Damen und Herren, konsequent! Noch konsequenter wäre es allerdings, wenn ich dann in Verträgen nie wieder das Wort “Hüllenabzug” lesen müßte… Und eins muß auch gesagt sein: entscheiden wird allein der Konsument. Ich wette um Tod und Teufel, daß ein Hit allemal auch als silbern glänzende Scheibe erscheinen wird, solange sich irgendwo ein Käufer dafür ausfindig machen läßt. Okay, einer ist vielleicht zuwenig, aber die kritische Masse liegt bei ein paar hunderttausend treuen CD-Nostalgikern. Und noch soll es davon ja einige Milliarden geben, auch wenn die Majors ihre Preßwerke abstoßen und Forrester & Co. meinen, ab sofort würde nur noch downgeloadet. Und überhaupt.

Von wegen: was sehen meine Augen beim Rundgang auf der diesjährigen Berliner “PopKomm”? Vinyl. Ausgerechnet. Das Label-Camp in der hintersten Halle, da, wo die Jungtuter und Indie-Vertriebe und Anarcho-Punk-Labels daheim sind, steckt voller Vinyl. 12inches, Singles, Alben mit Klappcover – was das Herz begehrt. Denn die jungen Leute, sagt man mir, die hätten inzwischen alle einen iPod (oder sonstigen MP3-Player) und den irgendwie auch schon satt. Natürlich sei es cool und praktisch, seine Record Collection im Hosensack mit rumtragen zu können, aber die weißen Kopfhörer verschaffen keinen Distinktionsgewinn mehr. Und so eine schwarze Scheibe, die hätte halt schon was. Allein das Abspielen auf einem seltsamen “Plattenspieler”… Und klingen tue das, eventuell noch im Verbund mit Vaters Old School-HiFi-Anlage (statt den lächerlichen Plastikboxen, die, wie’s scheint, PC-Standard sind), schon recht fett. Und überhaupt.

Man kommt ins Grübeln. De mortuis nil nisi bene – über Tote kein schlechtes Wort. Warum auch? Die Vinyl-Schallplatte war ein perfektes „object of desire“, ein Objekt der Begierde also, was natürlich vorrangig an der Verpackung lag. Und ihren Dimensionen. Wer einmal das Original-Album zu, sagen wir mal: John Coltranes „A Love Supreme“ (Impulse! 1964, Schwarz-Weiß-Cover, 180 Gramm Vinyl, fester Karton, umfangreiche Liner Notes) in Händen hielt, wird eine öde CD-Plastikschachtel oder gar ein MP3-File niemals als vollwertigen Ersatz akzeptieren.

Und selbstverständlich gingen Form und Inhalt bei der Langspielplatte oft in einzigartiger Weise kongruent, wenn etwa Mozarts „Requiem“ nach wenigen Minuten zu knistern und zu knacken begann, adäquat der Botschaft von der Vergänglichkeit alles Irdischen. Die anheimelnde Wärme der Abtastgeräusche des Diamanten in der Vinylrille wird ja heutzutage gern von Avantgarde-Produzenten sterilen Digitalaufnahmen beigemischt – davon hätte vor zwanzig Jahren kein Chefredakteur eines HiFi-Magazins zu (alb)träumen gewagt.

Generell muß festgehalten werden, daß der vermeintliche Fortschritt der Digitalisierung zwar technisch einen wirklichen Quantensprung darstellt, von Konsumentenseite aber hauptsächlich von Berieselungs-Mentalität und Bequemlichkeit getrieben war (abgesehen vom für die Musikindustrie, wie wir sie kannten, bedauerlichen Nebeneffekt der 1:1-Kopierbarkeit). Nie wieder nach 25 Minuten aus Großmutters Ohrensessel hochschrecken und die Platte umdrehen!, hieß das allgemein Credo ab Mitte der achtziger Jahre. Nie wieder Geschlechtsverkehr zum „chr-chr-chr“ des Tonarms in der Endlos-Spur am Ende von Bob Dylans „Blood On The Tracks“! Nie wieder grotesk verwelltes Vinyl nach der Zwischenlagerung der LP-Neuerwerbungen auf der Auto-Rückbank an einem heißen Juni-Tag! Undsoweiter undsofort. Die Fernbedienung war seit jeher das Zepter der Zukunftsgläubigen.

Wahrscheinlich lachen sich State Of The Art-Fetischisten in zwanzig, dreißig Jahren krumm über schnuckelige Mini-Festplatten á la iPod (samt deren Batterie-Problemchen), „Windows Media Centers“ (Bill Gates hat derlei garantiert nicht daheim), Hybride wie die – übrigens einmal mehr reichlich unattraktiv verpackte – “Dual Disc”, nervige Inkompatibilitäten zwischen SACD und DVD Audio oder den Verkauf von Musik nach der Wurstaufschnitt-Methode, auf Scheiben also, generell.

Sei’s drum – ich wage zu behaupten, daß die gute, alte, schwarze Scheibe mit dem kleinen Loch in der Mitte das Medium mit dem weitaus größten Sex-Faktor war. Und betone gleichzeitig: war. Da mögen DJs und Analog-Adoranten noch so sehr dagegenhalten: das Ding ist tot, tot, tot. Oder? Ich selbst besitze ja nachwievor tausende LPs und Singles. Und geb’ die gewiß nicht zum Teuchtler oder einem anderen antiquarischen Feinspitz. Rausholen’ tu’ ich die Bowie & Co. auf Vinyl aber selten bis gar nicht mehr. „Ashes To Ashes“, Staub zu Staub. Und doch: irgendwie juckts mich jetzt gerade in den Fingern… Meine Tochter kommt am Abend vorbei. Ich werde sie mal testen, ob so eine schwarze Scheibe ein Lächeln in ihr Gesicht zaubert.

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Formen von Elastizität, von Unbiegsamkeit

13. September 2005

Zehn Gedanken zu „10“, dem neuen Album der Wiener Jazz-Formation Forms Of Plasticity.

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Eins. Ein Konzeptalbum also. Nicht gerade die leichteste, leichtfüssigste Form, die sich die Burschen da ausgesucht haben. So meine erste Assoziation. Konzeptalben, soetwas riecht nach den Siebzigern, nach Doppel- oder gar Triple-Vinyl, nach Theorie und Gedankenschwere. Andererseits: das hat etwas. Klingt nach selbstgestellter Aufgabe, nach intellektueller Reibung, nach Lust am Reibungswiderstand. Ein Statement. Aber ein lockeres, entspanntes, nicht vordergründig politisches. Auch hintergründig nicht. „Es ist kein typisches Konzeptalbum geworden“, sagt Gitarrist Johannes Specht. Aber: gibt es denn untypische Konzeptalben? Und wie klingt soetwas?

Zwei. Warum „10“? Nun: es sind zehn neue Staaten, die die Europäische Union seit dem Vorjahr zu ihren Mitgliedsländern zählt. Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern. Alphabetisch gereiht. Man saß zusammen, am Piaristenplatz in Wien, damals im Sommer 2004, erzählt uns das Booklet zu „10“. Und hätte Kaffee getrunken. Unmengen von Kaffee. Und dann hatte Oliver Steger die Idee. Die Idee mit den Staaten als Inspirationsquellen. Oder, besser gesagt: dem grenzüberschreitenden Verkehr zwischen diesen Staaten. Auch wenn die Reisen (zumeist) nur im Kopf stattfanden, hatten die imaginierten, an Fred Frith erinnernden „steps across the border“ ein hohes Trigger-Potential. Ein Spannungsmoment, das aus vielen Ansätzen, Momenten und Stücken auf „10“ herauszuhören ist.

Drei. Sehr sympathischer Ansatz. Der konstante Versuch, nach unterschiedlichsten Inspirationsquellen zu fahnden. Die Scheuklappen unbeweglicher „Puristen“ beiseite zu lassen. Offen zu sein und zu bleiben. Also gerade das Konzept zugunsten konzentrierter Konzeptlosigkeit zu verwerfen, wenn die Situation es erfordert. Instinkt statt Intellekt. Oder, auch: Instinkt und Intellekt. Denn natürlich steckt – mehr oder weniger – hinter jedem Song eine Geschichte. Die Aufgabenstellung für den Hörer ist und bleibt, diese Story herauszukitzeln. Mit Instinkt und/oder Intellekt.

Vier. Zwischendurch immer wieder mal Jazz-Rock-Assoziationen. Nein, keine klischeehaften, retroaktiven, unangenehmen. Im Gegenteil. Jazz-Rock? Natürlich ist da Virtuosität, ist da ein kompaktes Zusammenspiel, ein unüberhörbares Können. Aber, wichtiger, ein unüberhörbares Wollen. Ich meine, ein Lorenz Raab (Hans Koller-Preis 2003), ein Oliver Steger (Amadeus 2005), ein Felix Bergleitner (alias Bionic Kid, Waxolutionists), ein Johannes Specht oder Mike Breneis daddeln nicht einfach so rum. Und die Plattensammlung ihrer Väter oder Ex-Konservatoriums-Kollegen hat nicht den Stellenwert, den manche sentimentstrunkene Nostalgiker unter den Rezensenten und Konsumenten jetzt hineingeheimnissen werden. FOP ist drittes Jahrtausend. FOP ist jetzt. FOP ist aber auch zeitlos. Herrlich zeitlos.

Fünf. Dreh’ diese Musik leiser, sagt meine Freundin, während wir durch Ungarn kurven, auf der Suche nach einer in der pannonischen Tiefebene verborgenen Zaubervilla samt Zaubergarten. Was ist denn das? Das könnte auch auf FM4 laufen, sage ich. Wenn FM4 die Ohren aufmacht für Klänge, die den Pfad des selbstauferlegt Erlaubten verlassen. Die komplizierter und komplexer sind als die Bloodhound Gang. Mehr K&K als Franz Ferdinand. Eventuell heftiger als Mando Diao. Eventuell anschmiegsamer als Moby. Dreh’ noch mal lauter, sagt meine Freundin. Aber wir spielen doch keinen Jazz. Oder Jazz-Rock. Oder so. Sagt sie. Ach, sage ich. Dann sind ja die bei Ö1 jünger im Kopf als diese Hipness-Priester.

Sechs. Plötzlich ist da eine Frauenstimme. Eine nicht gerade unbekannte Stimme. Aber ich komme nicht gleich drauf. Sandra Pires, sagt das Booklet. Track drei, „Poland“. Der sticht unzweifelhaft heraus. Die Musik, verrät uns Mike Breneis, basiert auf einem Motiv von Karol Szymanowski. Und man hätte sich durch Web-Tagebuch-Eintragungen von Touristen, die mit dem Fahrrad quer durch Polen unterwegs gewesen wären inspirieren lassen. Und dann wäre da noch so eine Geschichte aufgetaucht, von einer Frau, die an den Ort ihrer Herkunft zurückkehrt, eine ländliche Gegend. Per Fahrrad? Ich drücke die Repeat-Taste.

Sieben. Auf „Slovakia“, Track vier, kratzt der Waxolutionists-Wizard rum. Nicht nur dort, aber dort besonders intensiv. Ein sekundenlanges Schaben und Ziehen und Drehen. Pardon: Scratchen. Bionic Kid, auf dem FOP-Vorgängeralbum noch Gast, ist jetzt dauerhaftes Mitglied der Forms Of Plasticity. Das gibt der Flexibilität und Elastizität des nunmehrigen Quintetts ganz neue Formen. Das… Fett setzen Schlagzeug und Baß und alles andere und alle anderen ein. Und tragen meine Gedanken fort.

Acht. Unbiegsamkeit? Wenn schon Antagonismen in der Überschrift, dann jetzt aber mal her mit dem Gedankenkonstrukt. Aber fix! Aber gern doch. „Es ist nur eine Momentaufnahme eines Sounds, der sich ständig weiterentwickelt. Virtuose Jazz-Klänge verschmelzen mit Elektro-Beat-Mustern und TripHop-Elementen, verändern ihre Farbe, ohne völlig aus der Form zu kommen, und fügen sich elastisch in melodische Songstrukturen“… Ich lese es, den Zeigefinger die drei, nein: vier Zeilen entlangstreichend. Ja, schön gesagt. Gut gemeint. Quasi universell allumfassend generationenübergreifend. Etwas vage viellleicht. Aber, halt!, auch trefflich. Weil in seiner Vielgestaltigkeit tatsächlich nicht festmachbar. Flexibel. Elastisch. Formstabil. Schönes Wortspiel: stabil in seiner musikalischer Höchstform. Und dabei unbeugsam, unbiegsam, unbequem in seiner konsequenten Format-Verweigerung. Darauf kommen wir noch zu sprechen.

Neun. Persönliche Favoriten? Gewiß. Etwa dieses Monster ganz zum Schluß, 13 Minuten 6 Sekunden, „Tschechische Republik“. Irgendwie aufreizend unorthodox gegliedert, zuerst zarte, stimmige Virtuosität, Trompete, weite Landschaften, nichts ganz Ungewohntes. Ich mag ja diese ruhigen, zäh fließenden Momente. Dann Stille, viel Stille, dann – einem Hidden Track gleich – überraschendes Gestampfe und kokette Beat-Ballerei. Und eine Stimme, konterkariert von einer Vocoder-Stimme. „After nights of rain air is fresh and clean“. Höre ich recht? Verstörung. Bis zum Schluß.

Zehn. Wilkommen in Europa.

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