“Video Kills The Radio Star” – das war vor Jahren. Heute lassen Podcasting und Video-Downloads die Medienwelt, wie wir sie kannten, alt aussehen. Und ein neues Netz-Phänomen die sog. Plattenfirmen noch älter. Ein Fingerzeig.
Zum Einstieg ein kleines Ratespiel: wie könnte der anno 2005 meistgesuchte Begriff auf Google lauten? Sex? Gähn. MP3? Schon wärmer. Babyshambles? Download? iTunes Musicstore? Nicht ganz. Ein kleiner Hinweis: es handelt sich um den Namen einer Website bzw. eines Dienstes, der schon mehr als vierzig Millionen angemeldete Benutzer zählt. Und Experten inzwischen als das “MTV der Zukunft” gilt. Klingelt’s? Nein? Nicht weiter verwunderlich. Das Phänomen dringt erst zögerlich in den deutschsprachigen Raum vor. Mir selbst beispielsweise, dem das Themenspektrum Internet & Musik gewiß nicht á priori ein spanisches Dorf ist, kam der Begriff auch erst vor wenigen Monaten erstmals unter. Nämlich, als der Sänger und Gitarrist einer Band, die bei mir vorstellig wurde (die Gruppe trägt, nebstbei, den trefflichen Bandnamen “When The Music’s Over”), meinte, man sei zum Erfolg quasi verdammt. Denn man hätte schon dutzende, wenn nicht gar hunderte Freunde auf “Myspace”.
Aha. Soso. Damit hüpft die Katze jedenfalls aus dem Sack: “Myspace” ist das gesuchte Wort. “Myspace” ist – ähnlich der Business-Plattform “OpenBC” – ein sich rasant entwickelndes Wunderkind unter jenen Sites, die als soziales Netzwerk konzipiert sind und damit, so die “FAZ”, “für basisdemokratische Netzutopisten und schnöde Medienunternehmen gleichermaßen als neue Hoffnungsträger gelten.” Bereits mehr als 400.000 Bands und Künstler gehören zur Community, der Großteil der anderen Mitglieder von “Myspace” sind Fans, die Grenzen sind fließend. Alle sind sie aber Freunde. Denn “Friends” sind soetwas wie die Währung, das Kommunikations- und Adorations-Thermometer von “Myspace”. Das Adreßbuch gibt die Ordnungsstruktur vor. Wen man schätzt, ist Freund. Bzw. wird umgehend einer. Und seinen Freunden kann und will man Gutes tun – man schreibt persönliche Texte (Blogs), Witzeleien, Kritiken und Grüße, zeigt Fotos her und läßt sie Musik hören. Eigene Songs, aber auch fremde, auf die man quasi querverweist. Und wenn diese Songs den Freunden da draußen gefallen, dann lassen die das einen vice versa natürlich wissen. Und eventuell bestellen sie auch gleich das ganze Album dazu. Oder verbreiten die Kunde weiter, unter Freunden und Bekannten. Ernennen Dich taxfrei zum persönlichen Helden der Stunde. Oder gar zum coolsten Hund des “Myspace”-Universums. Und so weiter und so fort.
So entstehen heutzutage Hits. Im Herbst des Vorjahres z.B. hörte man das erste Mal von den Arctic Monkeys. Die Band hatte auf “Myspace” von sich reden gemacht, Demos und fertige Songs via Internet verschenkt und kurze Zeit danach mit “I Bet You Look Good On The Dancefloor” den ersten No.1-Hit in den britischen Charts. Marketingpläne? Etwas für hoffnungslose Traditionalisten. A&R-Development? Geh’ bitte. Das gibt’s doch eh nur mehr im Sagen- & Mythenschatz aus grauer Vorzeit. Radio-Airplay? Ja, später, wenn die Herren Musikchefs auch mal draufkommen. Und den Mut haben, es zu spielen, wenn (und weil) es allen anderen auch spielen. Schwamm drüber. Clap Your Hands Say Yeah! Was wie ein Kommentar zur neuen Unbekümmertheit und erfrischenden Do It Yourself-Mentalität der Internet-Generation tönt, ist denn auch tatsächlich der neueste Hype am Pop-Firmament. Die fünf Jungs aus Philadelphia und New York katapultierten sich mit viel Eigeninitiative und der elektrifizierten Mundpropaganda der Web-Community vom buchstäblichen Nichts zum heißesten Tipp für 2006. Mit Millionen Freunden (Mariah Carey z.B. hat nur 6100). Von denen dann nicht wenige auch tatsächlich eine CD kaufen. Weil’s Spaß macht, im Booklet zu blättern, eventuell. Weil eine Silberscheibe besser tönt als ein MP3-File. Oder aus einer nicht zu unterschätzenden, ganz unpathetischen Solidarität und Verbundenheit zwischen Fan und Künstler. Business mit Sympathiefaktor.
Tom Anderson, einer der beiden Gründer von “Myspace”, begrüßt jedes neue Mitglied der Plattform, als “erster Freund”. Mittlerweile dürfte er rund 50 Millionen Freunde haben. Im Juli des vergangenen Jahres ließ sich Anderson den Freundschaftsbonus auszahlen – ausgerechnet TV-Tycoon Rupert Murdoch kaufte das “Myspace”-Stammhaus Intermix Media für 580 Millionen Dollar. Murdoch scheint einmal mehr einen Riecher zu haben, wo das Geschäft der Zukunft zu machen ist. Der Mittelbau, so progostizierte etwa die Early Adoptors-Bibel “Wired Magazine”, würde sich hinkünftig in solchen Foren tummeln, ja drängeln. So könne man die Lücke zwischen den Myriaden hoffnungsloser Amateur-Produzenten (denen auch das ewige Verschenken ihrer konturlosen Songs nicht weiterhilft) und den millionenschweren, allerorts präsenten Stars der Branche schließen. “Das Internet ist das Radio von morgen”, folgerte die “FAZ”. “Was hier nicht läuft, kommt auch nicht als CD – schon gar nicht in die Charts.” Plattformen wie “Myspace” machten somit den Labels “den letzten Rest an Existenzberechtigung streitig”. Punktum.
Darüber läßt sich tatsächlich trefflich streiten. Denn natürlich ist es nicht nur die – gern behauptete, weniger gern eingelöste – A&R-Rolle der qualitativen Auswahl und professionellen Produktion von Künstlern, die Plattenfirmen (hat jemand einmal ein zeitgemäßes neues Wort für “record company”?) zufällt, sondern auch die sündteure Promotion im weiten Feld althergebrachter Medien und die möglichst massenhafte Bestückung der Regale, so lange es noch Regale gibt. Allein: den Schuß, den Phänomene wie “Myspace” auslösen, den hört man hoffentlich in den Chefetagen der noch verbliebenen Majorfirmen und größeren, nicht rein hobbyistisch agierenden Indies. Denn schon jetzt hat man eher weniger Freunde unter den Musikliebhabern dieser Welt. Noch weniger zu haben, wäre nicht nur geschäftsschädigend. Sondern möglicherweise bald schlichtweg existenzbedrohend.