Eine kurze, harte, wahre Geschichte: warum mein Vater einen Moskwitsch fuhr. Warum sich dies als Irrtum der Geschichte herausstellte. Und dann wiederum doch nicht.
Mein Vater war Revolutionär. Seine revolutionäre Tat: er besaß ein Auto, das sonst kaum jemand besaß. Weil es in der Sowjetunion hergestellt wurde. Und im Westen, folgerichtig auch in Österreich, als Kuriosum galt. Als exotisches Schauobjekt. Oder als rollender Beweis für die Überlegenheit des Kapitalismus. Wenn überhaupt. Jedenfalls nicht als vollwertiges, ernst zu nehmendes Automobil.
Ich habe diesen Umstand lange verdrängt. Sehr lange. Bis ich vor wenigen Tagen aus dem „Ost“ taumelte. Nicht etwa, weil ich betrunken gewesen wäre. Sondern weil mir noch die Ohren dröhnten vom Gastspiel einer grenzwertigen Ska-Punk-Pop-Kapelle namens Russkaja. Einer Combo, die nebst einem veritablen Ivan Rebroff-Wiedergänger als Sänger auch noch mit begnadeten Fiedlern, Bläsern, Saitenzupfern und Trommlern aufzuwarten weiß. Und mit ihrer offensiven Klangproduktion Kennern das Naß in die Augen zu treiben vermag (mit hoher Sicherheit handelt es sich dabei um Schweißtropfen). Das „Ost“ ist übrigens, für jene, die’s nicht wissen, mittlerweile soetwas wie das inoffizielle Kulturzentrum ehemaliger Ostblockländer, situiert in jenen Kellerräumlichkeiten am Wiener Schwarzenbergplatz, die früher das legendäre Rock’n’Roll-Refugium „Atrium“ beherbergten. Ein, man kann dies ruhigen Propagandaminister-Gewissens so sagen, gerade ziemlich angesagter Club. Von wegen Balkan-Fieber, Ost-Chic, DDR-Nostalgie, Russen-Disko. Undsoweiter.
Jedenfalls stand da neulich unweit des dunklen „Ost“-Schlunds, hochgradig passend zum Ambiente, diese Karre geparkt. Wie aus dem Nichts. Kantiges Design. Barocker Chrom-Zierrat. Wabenförmige Scheinwerfer. Man sieht derlei nicht mehr oft auf heimischen Strassen in Zeiten aerodynamischen Einheits-Designs. Respektive: man sah derlei nie oft auf heimischen Strassen. Zu keiner Zeit.
Augenblicklich hat mich die Erinnerung gekrallt. Ein, wie gesagt, lange vergessen geglaubtes, wahrscheinlich intensiv verdrängtes Stück Kindheit und Jugend. Es muß Anfang der siebziger Jahre gewesen sein, als mein Vater mit diesem Auto um die Ecke bog. Mein Vater war B-Beamter (in meinen Augen stand das „B“ für brav, bieder, betulich) im Wiener Bundeskanzleramt, typischer Hutfahrer und zumeist stillschweigender Beisitzer meiner laut und viel und nahezu immer sprechenden Mutter. Dabei saß er am Steuer. Meine Mutter hatte zwar einen Führerschein, fuhr aber nie. Mein Vater dagegen fuhr viel. Oft die Strecke Wien – Weinviertel (Gegend Retz) oder Wien – Waldviertel (Gegend Zwettl) und retour. Langsam, leicht unsicher, doch mit einer stoischen Gelassenheit, die gelegentlich in Nervosität umschlug, wenn der Verkehr dichter wurde. Oder meine Mutter lauter.
Der erste Wagen meines Vaters war ein Opel. Das genaue Modell ist mir entfallen, ich glaube, ein Rekord. Typisches Massenmobil der späten Sechziger, vom Design her eher den Fünfzigern verhaftet. Mein Vater hatte den Opel gebraucht gekauft, und ich erinnere mich daran, wie er ihn stolz in der Taubstummengasse parkte, in gleißendem Sonnenlicht.
Der Wagen hielt ein paar Jahre. Dann zahlte sich irgendwann eine Reparatur nicht mehr aus, der Opel trug ein imaginäres Ablaufdatum. Wir zogen um, vom vierten Wiener Bezirk in den fünfzehnten, in die Goldschlagstraße. Diese Zäsur sollte durch ein neues Fahrzeug unterstrichen werden. Ich sah einer verheißungsvollen Zukunft entgegen. Nach der Schule sammelte ich Autoprospekte. Mit einer vernünftigen Vorauswahl möglicher Modelle und trefflichen Argumenten wollte ich meinen Vater bei der Entscheidungsfindung diskret unterstützen. Angetan hatte es mir, wohl wissend um den begrenzten finanziellen Spielraum, insbesondere das 850er Coupé von Fiat. Gewiß kein Sportwagen, aber doch vergleichsweise dynamisch in der Erscheinung. Und mit – ganz wichtig! – runden, vergitterten Plastik-Luftdüsen im Armaturenbrett. Dies erschien mir als Höhepunkt zeitgemässer Ausstattung. Ich freute mich auf den Augenblick der Erstbegegnung.
Doch es kam, wir wissen ja bereits Bescheid, anders. Ganz anders. Den Moment, in dem mein Vater mit dem Moskwitsch um die Ecke gebogen kam, mit „herbe Enttäuschung“ zu umschreiben, trifft die Sache nicht ganz. Eine Welt ging unter. Was, zum Teufel, wollte mein Vater mit diesem Gefährt? Ich fragte aber nicht nach. Ich schmollte. Mein Vater bemerkte es gar nicht. Er fand, er hatte eine gute Wahl getroffen. Ein robustes Gefährt. Graublau. Unglaublich billig. Exotisch, ja doch. In Russland gebaut. Noch mit Handkurbel ausgestattet, falls die Batterie den Strom nicht halten sollte. Ein kommunistisches Volks-Vehikel für einen alpenländischen B-Beamten? Zum Eisernen Vorhang war es nicht allzu weit. Mein Vater empfand keinen ideologischen Vorbehalt. Jedenfalls nicht, was den sowjetischen KfZ-Produktionsausstoß betraf.
Ich schon. Moskwitsch, Trabant, Wartburg, Skoda, Dacia, Lada, Saporoshez, Oltcit, Wolga, Tatra, Polski-Fiat, Polonez, Yugo, Zastava. Das waren Marken, die im Auto-Quartett nicht vorkamen. Fragten mich meine Schulkollegen, welches Auto denn mein Altvorderer führe – sie selbst verwiesen stolz auf Mercedes, NSU, Ford, ja sogar ein Jaguar war darunter –, schwieg ich beschämt. Oder imaginierte einen Opel GT herbei. Oder einen Fiat Spider. (Seltsamerweise kam keinem der gleichaltrigen Auskenner damals der Gedanke, daß das alles andere als Familienkutschen waren). Die Realität roch nach Ostblock. Zumindest ist mir der strenge Duft, den der Moskwitsch verströmte, nach Lakritz und Bakelit und Wladiwostok, auf ewig hängen geblieben. Und die cyrillische Beschriftung der Armaturen seh’ ich auch noch vor mir, als wär’s gestern. Das Ding lief und lief und lief. Irgendwann, Ende der siebziger, Anfang der achtiger Jahre dann aber doch nicht mehr. Dann kam ein VW Polo. Aber da war ich schon von zuhause ausgezogen. Als im Frühjahr 2006 Moskwitsch endgültig von einem post-stalinistischen Gericht für bankrott erklärt wurde, hatte der Hersteller mehr als 4 Millionen Fahrzeuge produziert.
Mein Vater, leider schon früher verstorben, hat mir einmal die wahre Geschichte des Moskwitsch erzählt. Die private. Warum ausgerechnet er – die Millionen im Osten, die oft Jahre auf ihren PKW gewartet hatten, blieben eine abstrakte Zahl für gelernte Westler – das Modell 412 erstanden hatte. Es ist eine kurze, harte, lehrreiche Geschichte. Und sie geht so –
Mein Vater war ausgezogen zum Autohändler mit dem unbedingten Vorhaben, tunlichst Geld zu sparen. Im Keller lagen fast neue Winterreifen, die er noch für den Opel erstanden hatte. Er wollte sie weiterverwenden. Das einzige Gefährt, auf das die Reifen zu passen schienen, war ein Moswitsch. Typ 412. Meinte der Händler. Auch die Papiere, die die Dimension der Reifen auswiesen, sprachen dieselbe Sprache. Also kaufte mein Vater den Wagen. Stantepede. Ohne kleinliche eigene Wünsche (hatte er je welche gehabt in Bezug auf einen eigenen fahrbaren Untersatz?) ins Treffen zu führen. Oder auf das Image, die Botschaft, die tratschenden Nachbarn zu achten. Auf den Sohn mit seinem monatelang kumulierten und bewußtseinsmäßig manifesten Vorschlag mit dem Fiat schon gar nicht.
Der Clou war: die Reifen schienen richtig dimensioniert, passten aber trotzdem nicht. Totalausfall. Eventuell kommunistische Feindtäuschung. Eher aber war mein Vater ein Opfer des eigenen unbedingten Sparwillens geworden. Und ich mit ihm. Ich habe es ihm jahrelang nicht verziehen.
Aber jetzt, vor dem „Ost“ und nach dem Russkaja-Konzert, erschien mir seine Tat revolutionär, ja visionär. Und mein damaliger Schmerz sekundär. Alles eine Frage der Zeit. Und der Wodkamenge. Spasibo.