Mozart, Karajan, Vater und Sohn Strauss, Falco, Kruder & Dorfmeister, Christl Stürmer – das sind die Namen, auf die sich die „Musiknation“ Österreich und die Kultur-Hauptstadt Wien gerne berufen. Dabei hat die lokale, populäre, zeitgenössische Musikszene an der schönen, blauen Donau weit mehr zu bieten als gern genommene Klischees und karge ökonomische Rahmenbedingungen. Eine Rundschau.
Es gab Zeiten, da schien sich der Traum, daß Österreich eine Musiknation auch abseits musealer, repräsentativer Hochkultur sein könnte, ganz legér zu erfüllen. 1986 etwa, als Falcos „Rock Me Amadeus“ – an sich schon ein gewitztes Spiel mit Pop-Reizworten, Klassik-Klischees und Tourismuswerbungs-Versatzstücken – drei Wochen lang die US-Charts anführte. Mitte der neunziger Jahre, als der elektronische „Sound of Vienna“ rund um Kruder & Dorfmeister sogar in London, Paris und New York mediale Wellen schlug. Und eventuell auch heute, wo man die „Starmania“-TV Casting Show-Entdeckung Christina Stürmer in Deutschlands Haushalten mindestens genauso schätzt wie in Österreich.
Die Realität tönt zwangsläufig nüchterner. Die so gern von Politikern, Lokalpatrioten und Marketing-Fachleuten in den Mund genommene Parole vom „Musikland Österreich“ steht in einem eklatanten Widerspruch zur ökonomischen Bedeutung von Musik „made in A“. Zwar wird das internationale Orchester-Repertoire nachwievor, wie der Musiksoziologe Desmond Mark recherchierte, von der sogenannten „Wiener Klassik“ dominiert. Und natürlich tragen millionenschwere Staatsopern-Premieren, Musical-Inszenierungen und Mozart-Jahre zu unwägbaren touristischen Umwegrentabilitäten bei. Doch der Anteil österreichischer Produktionen am globalen Tonträgermarkt, auf dem vor allem Pop im weitesten Sinne gefragt ist, war, ist und bleibt äußerst gering. Andreas Gebesmair vom Institut Mediacult befand, daß „selbst im eigenen Land heimischen Produktionen lediglich ein Leben an der Pop-Peripherie beschieden ist. Der Anteil österreichischen Repertoires am Gesamtumsatz mit Tonträgern liegt bei nur etwas über zehn Prozent“. Man kann davon ausgehen, daß die Zahlen nicht besser geworden sind. Daran konnte auch ein Kultur-Staatssekretär nichts drehen und wenden, der in seiner Jugend selbst Burgtheater-Punk und Musikschaffender mit radikal kommerziellem Kalkül war.
Die lokale Szene, seit jeher ein überschaubarer Haufen, hat es sich aber irgendwie ganz bequem eingerichtet mit dem Umstand, es selten über „Weltberühmtheit in Wien“ hinaus zu schaffen. Man hat zur Kenntnis genommen, daß die globale Musikindustrie nach alter Major-Spielart einer schiefen Ebene gleicht – gnadenlose Durchvermarktung von Mainstream-Superstars von den USA über Großbritannien und Deutschland bis in die hintersten Provinz-Winkel der Alpenrepublik – und abseits dieser Maschinerie dennoch (oder eben deswegen) vitale, kreative, eigenwillige und eigenständige Kultur-Biotope blühen. Gerade hier haben auch die Indie-Philiosophie der neunziger Jahre und der kommunikationstechnische Urknall des Internet ihre Spuren hinterlassen. Vom Schlafzimmer-Heimstudio über die Download-Revolution bis zu den neuen Medien-Kanälen Google, Napster, iTunes, YouTube und MySpace hat man in den Wiener Digital Bohemien-Bezirken Wieden, Margareten, Mariahilf und Neubau seine Hausaufgaben gemacht. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis neue „Helden von Heute“ (um das unübertroffene Role-Model Falco zu zitieren) ihren Weg in die Welt finden. Bis dahin muß Wien besuchen, wer die österreichische Musikszene orten, benoten, erleben und geniessen will. Generell nicht der schlechteste Weg.
Was sollte man also anno 2007 keineswegs versäumen in dieser Stadt und ihrem Umfeld, das letztlich bis zum Bodensee reicht? Zunächst gilt es festzuhalten, daß es den einen, großen Trend – wie fast überall auf dem Planeten Pop – nicht oder nicht mehr gibt. Die Elektronik-Ecke, die noch vor wenigen Jahren mit Techno, TripHop, Dub, Drum & Bass, Electro und Downbeat für ein weitgefächertes Klanguniversum sorgte, ist etwas aus der Mode geraten, sorgt aber ungebrochen für hoch- und höchstwertige Hörerlebnisse. Wo noch Mitte der Neunziger der NME von den „Viennatones“ schwärmte und das britische Avantgarde-Magazine „Wire“ darüber staunte, daß „Europe’s number one Selbstmord capital“ solch eine lebendige, innovative und vernetzte Szene entwickeln konnte, haben sich heute Routine, Pragmatismus und eine gewisse Abgeklärtheit festgesetzt. Eigenschaften, die aber nicht á priori negativ zu bewerten sind, da sie dem gerade dieser Hemispäre innewohnenden Hang zur müden Eleganz entgegenkommen. Peter Kruder und Richard Dorfmeister betreiben entdeckungsfreudiger denn je ihr stilbildendes Label G-Stone. Die Sofa Surfers mit ihrem vormaligen Business-Arm Klein Records feierten unlängst zehnjähriges Betriebs-Jubiläum. Und zu den ewigen Underground-Kollegen Pulsinger & Tunakan (Cheap Records) – die es in den letzten Jahren mehr in Richtung Jazz und DJ-Culture zog – gesellten sich mit Dzihan & Kamien neue Nachbarn, die den Couch-Sound (sic!) mehr als multikulturelles, eklektisches Wohlfühl-Spektakel inszenieren. Insofern muß man sich um den fast schon zum Kaffeehaus-Klischee geronnenen, impulsiv-relaxten „Sound of Vienna“ keine Sorgen machen. Zumal der „Sunshine“-Crew rund um Heinz Tronigger, die einige Lokale (Passage, Roxy u.a.) betreibt und Acts wie Madrid De Los Austria auf ihrem eigenen Label veröffentlicht, nun auch ein Radiosender zugedacht wurde. Spät, aber doch hat man die Tonspur zur Metropole im Äther verankert.
Doch, halt!, dies ist insofern ungerecht, als der eigentliche Horchposten und Jugendkultur-Kanal seit mehr als zehn Jahren FM4 heißt. Der innovativste öffentlich-rechtliche Radiosender Mitteleuropas – mit Kult-Reichweite bis München, Bozen und Bratislava – ist der vielleicht wichtigste mediale Lebensstrang für Musiker diesseits der Austropop-Historie in diesem Land. Was hier nicht läuft, läuft (fast) nirgendwo. Was von der HipHop-Szene, die mit Erscheinungen wie Texta, Schönheitsfehler, DJ DSL, MaDoppelT, Kamp und den Waxolutionists doch einiges beweisen und bewegen konnte, über Volksmusik-Neuerer wie Attwenger bis hin zu den unzähligen Stromgitarren-Heroen, Electro-Pop-Acts und Neo-Singer-Songwritern jederzeit bestätigt wird.
Als mit ungenierter Subjektivität getroffener persönlicher Empfehlung möchte ich an dieser Stelle drei exemplarische Acts nennen. Heinz, die Rockschrammler um Michi Gaissmaier, die kecker und kreativer sind als etwa die BRD-Kumpel Sportfreunde Stiller. Wolfgang Schlögl alias I-Wolf, der als Kopf der Sofa Surfers, aber auch solo und in anderen Konstellationen immer wieder kluge Ausfallschritte wagt. Silicone Pumpgun alias Barca Baxant und Callrider stehen zu guter Letzt für frischen, unverkrampften, spielfreudigen Sequencer-Trash-Pop ohne devot-wertkonservative Traditionsanbindung. Nun sollte ich auch noch Russkaja nennen, die im Verbund mit dem „Ost“-Club eine verstärkte Öffnung in Richtung Russen-Disco, Ethno-Trends und Balkan-Chic signalisieren… Aber dann müsste man auch Gruppen wie DelaDap!, Fatima Spar & die Freedom Fries und und und nennen. Schluß! also. Soviel läßt sich mit Gewißheit sagen: insgesamt ist die Musiklandschaft in diesem Land heute breiter, aktiver, origineller, autarker, eigenständiger und selbstbewußter denn je. „Die guten Kräfte sammeln sich“, sangen einst die Progressiv-Punks Chuzpe. „Sie sammeln sich für Dich und mich“. Das ist circa fünfundzwanzig Jahre her. Die Suggestionskraft und Willensstärke der Worte ist nicht schwächer geworden seit damals. Im Gegenteil.
Die Bebilderung der Szenerie, die mehr denn je von kleinen, feinen Independent-Labels getragen wird (Wohnzimmer Records, Trost, Acute, Schönwetter, Pate, monkey., Karate Joe, Siluh – just to name a few), erledigt der TV-Anbieter gotv, der sich zur erfolgreichen Alternative zu MTV, Viva & Co. entwickelt hat und den halbstaatlichen ORF zumindest abseits von „Starmania“, Hansi Hinterseer und Andy Borg ziemlich alt aussehen lässt. Live ist zudem mehr los denn je – ein Blick in szenenahe Magazine wie „Falter“, „City“, „gap“, „tbc“ oder auch in Tageszeitungen wie „Kurier“, „Standard“ oder „Presse“ wird dies bestätigen. Das Club- und Lokalangebot – vom „Flex“ bis zum „Porgy & Bess“ – ist dicht, engagiert programmiert und mehr als entdeckenswert. Die Einkaufsmöglichkeiten, sprich: Plattenläden und CD-Shops, werden zwar immer weniger, da sich das Geschehen stark ins Netz verlagert hat (gute Anlaufstellen: http://www.musiktank.at, http://www.mica.at, http://www.pop-info.at, http://www.austriancharts.at, http://www.sra.at, http://www.musicchannel.cc). Wer sucht, findet aber neben den üblichen Ketten und Mediamärkten auch weit intimere und glücklichmachendere Läden nach „High Fidelity“-Vorbild. Dort soll es übrigens auch noch Vinyl geben, für die MP3-Generation ein fast schon erregendes haptisches, optisches und klangliches Erlebnis. Auch in diversen Shops, Stores und Boutiquen findet man ausgewählte CDs, skurille Raritäten und persönliche Empfehlungen. Das frischfröhliche Motto lautet: do it yourself – von der Idee bis zum lokalen Vertrieb.
Daß es der heimischen Szene an Quantität und Qualität mangelt, ist jedenfalls eine – besonders gern von professionellen Ignoranten vor Ort in den Mund genommene – Behauptung, die sich selbst richtet. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit, an der diverse Protagonisten der lokalen „Creative Industries“ drehen, schrauben und hämmern, weist auf steigende Business-Aktienkurse hin. Und fast immer auf potentiellen kulturellen Genuß und Gewinn. In diesem Sinn: investieren Sie einen Blick und ein Hinhorchen, es lohnt sich.