Der Paradigmen-Wechsel des Digitalzeitalters erklärte die Musikbranche zur Avantgarde des Niedergangs. Die grossen Plattenfirmen („Majors“) bleiben zunehmend auf der Strecke – trotz jahreszeitlich bedingten Superstar-Aufgebots, von den Beatles bis zu Robbie Williams.

„Es gibt keine Majors mehr“, lautet der Standard-Merkspruch von Manfred Lappé. Der Mann muß es wissen: als ehemaliger Geschäftsführer von Warner Music Austria, zudem Finanzchef in Deutschland, Präsident aller ehemaligen Ostblock-Länder und Vorsitzender des Major-Lobbyverbands IFPI, war Lappé lange Jahre der ranghöchste Musikmanager Österreichs. Bis er anno 2007 Warner verliess und tolldreist die Seiten wechselte: er ist heute als Business Consultant für den kleinen Tullner Indie-Vertrieb Rebeat tätig, der mit „Rebeat Digital“ einen innovativen Online-Werkzeugkasten für Newcomer und Selbstvermarkter entwickelte.
Für den internet-affinen Musikfan macht’s, zumindest oberflächlich, keinen Unterschied, ob er Musikstücke eines Warner- oder Rebeat-Künstlers herunterlädt – technisch gesehen rutscht beides längst geschmeidig in die private Pop-Kollektion. Den lästigen Kopierschutz haben mittlerweile (fast) alle Parteien aufgegeben; die Majors Warner, EMI, Sony und Universal erst nach langem Widerstand. „CDs machen zwar ungebrochen den Großteil des Geschäfts aus, aber der Anteil sinkt Jahr für Jahr“, weiß Lappé. Aktuell beträgt er in Österreich immer noch knapp achtzig Prozent. „Es ist klar, wohin die Reise geht. Und es wird kein Stein auf dem anderen bleiben.“ Für die ungebrochen zum Umsatz-Schaufeln gezwungenen Ex-Kollegen des Major-Veteranen haben derlei Aussagen, bei aller Drastik, einen langen Bart. Für die Auguren des neuen Zeitalters ist Manfred Lappé, als graue Eminenz quasi vom Saulus zum Paulus mutiert, dagegen willkommen wie der Weihnachtsmann.
Apropos: für die Musikindustrie hat der Advent längst begonnen. Eigentlich ist das Weihnachtsgeschäft fast schon wieder vorbei. Denn was jetzt noch in der Pipeline steckt – sei es als Projekt der A&R-Abteilung (zuständig für ständigen künstlerischen Nachschub), als Planzahl des Controllings oder als halb fertiges Album eines Superstars –, kann und wird nicht mehr rechtzeitig zum Fest unterm Baum liegen. Die Major-Musikindustrie hat jahrzehntelang in buchhalterischen „Forecasts“ geschwelgt, wo jede CD-Neuerscheinung in bestimmten Quantitäten einem Zielpublikum zugedacht ist. Und sie tut es immer noch. Nur die absoluten Zahlen sind deutlich zurückgegangen. Der Untergang des Abendlandes ist noch nicht (ganz) eingetreten: das Niveau der weltweiten Umsätze mit Musik und damit verbundenen kreativen Inhalten, etwa Videos und Merchandising-Artikeln, bewegt sich auf Höhe der achtziger Jahre. Aber natürlich stimmt diese Entwicklung den Grundtenor einer Branche, die viele Jahrzehnte lang eine annähernd stete Aufwärtsentwicklung und funkelnde Renditen gewohnt war, in Moll.
Was noch vor kurzem das Sahnehäubchen, mehr noch: die Trägerrakete des Jahresumsatzes war – das Weihnachtsgeschäft –, ist nun bisweilen der letzte Hoffnungsschimmer. Die EMI etwa, lange Jahre stolzes Flaggschiff des britischen Musikimperiums, hat seit der Übernahme durch den Finanzinvestor Terra Firma kaum mehr eine Verschnaufpause. Zu groß ist der Druck, die Erwartungen des neuen Managements und die Rückzahlungsraten der Kreditgeber, zuvorderst die New Yorker Citigroup Inc., zu bedienen. Gezwungenermassen setzt man auf Verramschung des Tafelsilbers – Backkataloge etwa von Queen, Pink Floyd, Depeche Mode, Moby, Norah Jones, Radiohead und hunderten anderen Ikonen der Pop-Historie, die immer wieder recycled werden – und spezielle Glanzlichter, die sich als generationenübergreifende Präsente eignen. „Greatest Hits“-Kollektionen haben Hochkonjunktur, aber auch lang erwartete Novitäten von tatsächlichen und vermeintlichen Superstars werden gern genommen.
Waren es vor fünf Jahren Coldplay, die man mittels Millionen-Prämie zu einer bilanztechnisch fristgerechten Ablieferung des Albums „X & Y“ bewegen wollte (die Künstler weigerten sich strikt), sind die Hoffnungsträger dieses Jahres etwas leichter zu verplanen: die guten, alten Beatles. Deren Komplettwerk wurde, klangtechnisch restauriert, neu aufgelegt und rangiert gerade quer um den Globus in allen Hitparaden. HiFi-Feinspitze können Mono- und Stereoversionen vergleichen, Kritiker schwelgen in Erinnerungen, das Jungvolk darf sich zudem an einem Computerspiel („The Beatles : Rock Band“) erfreuen, das John, Paul, George und Ringo drastisch plastisch neu erstehen lässt. Man selbst wird via putzig originalgetreuem Plastikinstrumentarium quasi Teil der Fab Four. Yeah yeah yeah! Enthusiasmus auch in den EMI-Chefetagen: die um ca. 200 (Mono: 300) Euro wohlfeilen Beatles-Boxen verkaufen sich prächtig. Wenn auch das Oeuvre immer noch nicht – legal – online erhältlich ist: der absehbar letzte Abglanz der Silberscheiben rettet anno 2009 die Bilanz. Und eventuell die ehemals grösste Plattenfirma der Welt vor dem Untergang. Bis auf weiteres.
EMI hat aber noch einen Trumpf im Talon: Robbie Williams. Von den restlichen drei des Major-Quartetts – Universal, Sony und Warner Music – kommt zwar auch allerhand auf den Markt, von Madonna’s Greatest Hits (einmal mehr) bis hin zu neuen Alben von Mariah Carey, Rammstein, Backstreet Boys, Kiss, Tokio Hotel, Whitney Houston und einigen Wiedergängern des Pop-Panoptikums mehr. Pearl Jam, Muse und Semino Rossi beherrschen aktuell die Charts. Sogar Papst Benedikt XVI. wird – im Verbund mit Geffen Records – Ende November eine CD („Alma Mater“) mit Litaneien und Gebetsgesängen, begleitet vom Royal Philharmonic Orchestra, geneigten Hörern anempfehlen. Und natürlich wird auch Michael Jackson noch einmal in den Verkaufsregalen irrlichtern. Aber mit Robbie Williams, dem lebendigsten Hoffnungsträger des Mainstream-Musikmarkts, kann es keiner aufnehmen.
Der ehemalige Teenager-Heroe („Take That“) hat bislang über 55 Millionen Scheiben verkauft, litt zuletzt aber an Depressionen, Unlust und einem merkbaren Karriere-Abschwung. Nun soll „Reality Killed The Video Star“ für ein Comeback sorgen. Der Titel des neuen Albums, dessen Veröffentlichung für Anfang November avisiert ist, birgt nicht nur eine gewitzte Anspielung auf den Status Quo der Branche, sondern auch auf den Produzenten Trevor Horn, der es an Szene-Prominenz fast mit seinem Neo-Schützling aufnehmen kann – in den achtziger Jahren sorgte Horn mit Frankie Goes To Hollywood für große Erfolge, zuvor war er bei den Buggles („Video Killed The Radio Star“) aktiv.
Abgesehen vom obligaten Best Of-Album könnte das Opus aber das letzte für EMI sein. Schon in den letzten Jahren hatte es, trotz Rekordsummen und innovativer Vertragsgestaltung, heftige Spannungen zwischen der Record Company und ihrem Goldesel gegeben. „Auch wenn es inzwischen fast ein Klischee ist“, zitiert das deutsche Branchenblatt „Musikwoche“ Williams’ Manager Tim Clark, „Wir gehen von zwei Koordinaten aus: Künstler und Fans. Und jeder, der dazwischen stehen will, muß seine Rolle erst rechtfertigen.“ Die neuen EMI-Hausherren kämen ihm vor wie „Plantagenbesitzer, die nur aus Eitelkeit ins Record Business geraten seien“.
Die Maxime lautet ungebrochen: pecunia non olet, Geld stinkt nicht. Daß zudem immer mehr Künstler „grundlegende Fragen rund um das Musikgeschäft im digitalen Zeitalter stellen“, wie „The Times“ festhielt, kommt nicht weiter überraschend. Antworten haben aber weder Künstlermanager – außer vielleicht jene Handvoll, die Megastars betreuen und ungeniert weiter auf konventionelle Marktmechanismen setzen können – noch Plattenfirmen, die absehbar das Präfix Platten- aus dem Firmenschild streichen müssen. Das digitale Zeitalter und das Internet haben Musik als Ware entwertet, eine komplette Branche ist gezwungen, sich neu zu erfinden. Seit Jahren wogt ein Streit zwischen Filesharing-Aktivisten, Hobby- und Profi-Piraten und Wortführern einer „Kreativität gehört allen“-Gratis-Ideologie einerseits und Kreativen, Labels, Urheberrechtsvertretern und Interessensverbänden anderseits. Die Frontlinie verläuft oft unübersichtlich, es ist für alle Beteiligten weithin unbekanntes, abseits populistischer Binsen und tradierter Business-Parolen, argumentativ und geschäftlich wenig trittfestes Terrain.
In England bemerkt man gerade einen leisen Meinungsumschwung: eine von der Künstlerin Lily Allen losgetretene Debatte brachte den Branchenverband FAC (Featured Artists Coalition) dazu, radikal umzuschwenken und dem Mythos vom Filesharing-Aktivisten mit durchwegs lauteren Absichten ein „It’s not allright!“ entgegenzuhalten. Populäre Stars wie James Blunt, Elton John, Muse oder Gary Barlow deklarierten sich umgehend als Unterstützer. Auch in Deutschland entwickeln Vertreter der „Piratenpartei“ zunehmend ein rudimentäres Grundverständnis für die akuten Sorgen und Nöte der Künstler (die allerdings eher Newcomer als Superstars zu spüren bekommen).
Auf der Strecke bleiben aber nicht nur Nachwuchskünstler und Grassroots-Strukturen, sondern auch die Dinosaurier der Branche. Obwohl sich die Majors mehr und mehr zu Entertainment-Universalisten verwandeln und ein „180 Grad“-Business-Modell forcieren, das auch Verlagsrechte, Management-, Live- und Merchandisingeinnahmen in die Rechnung einbezieht, ist der Schrumpfprozeß kaum umkehrbar. Die digitale Revolution hat künstlich errichtete Markteintrittshürden zerbröselt, mediale Kanäle transformiert und Marktmonopole zerstört. Und „Cherrypicking“, die heutzutage so kommode Möglichkeit, sich nur mehr die neuen und wirklich begehrten Songs einzeln aus jeder „Best Of“-Kollektion zu pflücken, erodiert schon lange den wichtigsten Rendite-Bringer: das Album. Zunehmend geht es um Cent-Beträge, die sich nur mehr im Ausnahmefall zu Millionen addieren. Und diese Ausnahmefälle marketingtechnisch zu triggern gerät teurer und teurer.
Für die EMI wird es jedenfalls – Beatles hin, Robbie Williams her – knapp. Die „New York Post“ berichtete von zunehmender Ungeduld der Citigroup als Hintergrund-Finanzier des Musikkonzerns. Sollten die Zahlen nicht stimmen, werde die Bank nicht zögern und den traditionsreichen Major in die Insolvenz schicken. Warner als einer der wenigen verbliebenen Konkurrenten reibe sich schon die Hände.
Dabei wollte, ein Treppenwitz der fortgesetzten Krisen-Historie, noch vor Jahresfrist die EMI Warner kaufen. Ausgerechnet.
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