Millionenbetrug, Sinnkrise und wegsterbendem Publikum zum Trotz: in Salzburg und Wien kehrt man zu „business as usual“ zurück. Anmerkungen zum „System Klassik“.

Sollten Sie Lady Gaga, Slipknot oder Tocotronic für die Säulenheiligen der Gegenwartskultur halten, muss ich Sie gleich zum Auftakt enttäuschen: die gewichtigsten, teuersten und radikalsten Protagonisten im ewigen Orgien-Mysterien-Theater des Musikgeschäfts sitzen hinter den Kulissen. Etwa, sieh’ an, in Salzburg. Oder auch in Wien. Wer Gagen in Millionenhöhe für, sagen wir mal: Madonna für obszön hält, sollte die Reset-Taste drücken. Umgehend.
Denn: klassische Musik wird in Österreich jährlich mit etwa 80 bis 150 Millionen Euro vergoldet, je nach Betrachtungsweise. Das ergab eine Diplomarbeit von Clara Kirschner, nüchterner Titel: „Die öffentliche Förderung von Klassischer Musik in Wien, Salzburg und auf bundesstaatlicher Ebene im Vergleich“. Der Rest vom Fest – insbesondere die weitläufige Pop-Abteilung – darf sich mit den Brosamen begnügen, die vom reich gedeckten Tisch fallen. Und das ist nur ein Antriebsstrang eines wundersamen Hochkultur-Perpetuum Mobiles. Nennen wir es das „System Klassik“.
Als dieser Tage im Rahmen der Osterfestspiele die „Götterdämmerung“ an der Salzach erklang, der letzte Teil des „Ring der Nibelungen“, gespielt von den Berliner Philharmonikern und dirigiert von Sir Simon Rattle, konnte man von „rauschendem Orchesterklang, üppigen Stimmen, Musik, die nochmals die großen Linien der Geschichte zusammenfasst“ lesen. Aber auch von „trotziger Begeisterung“ und einem Scheitern an hohen, nein: höchsten Ansprüchen. Das Sinnbild, das Stephane Braunschweig dem Publikum vorsetzte, ist von drastischer Allegorik: „Es ist so, dass die Väter in diesem „Ring“ verantwortlich und schuldig sind daran, dass alles schief geht“, so der Regisseur. „Und dann kommen die Jungen, die diese Welt retten sollen. Aber sie verstehen die alte Generation nicht. Es handelt sich um eine Tragödie, wo der Held überhaupt kein Bewusstsein der Tragik hat.“
Nun denn: erstaunt uns das lebensfrohe Weiterwursteln der Haute-Volée? Erinnert sich noch jemand an all die Skandale, Skandälchen, Kontrollmiseren und Rabl-Stadlerschen Endzeitgesänge, was die Nebenwirkung des Anti-Korruptionsgesetzes auf den Kartenverkauf betraf? Verwundern die Klagen über eine „Verwienerung“ der Salzburger Klüngelei, während man sich Diskussionen über kriminelle „Einzelfälle“ (?) á priori verbittet?
Begleitet von den Molltönen einer Matthäus-Passion und eines Verdi-Requiems, flankiert von Sponsoren wie Audi und Vontobel, fuhren die – im Vergleich mit den eigentlichen Salzburger Festspielen eher nebensächlichen – Osterfestspiele 2010 ein hübsches, kleines Defizit von 880.000 Euro ein. Ein Fliegenschiss quasi, rechnet man doch mit Umwegrenditen und Tourismusumsätzen in Millionenhöhe. Diese, hm, indirekte Rentabilität wird gebetsmühlenartig auch immer wieder in die Schlacht der Pro- und Contra-Argumente geworfen, wenn z.B. die Frage nach der sauteuren Musical-Subventionierung in Wien aufploppt. Warum man mit populistischen Spektakeln wie der Udo Jürgens-Huldigung „Ich war noch niemals in New York“ in Deutschland Riesengewinne einfährt, hierzulande aber enorme Zuschüsse braucht, konnte noch niemand schlüssig erklären. Aber: andere Baustelle. Gegen den gutbürgerlich-feisten, vom immerdar sprudelnden Geldfluss genährten Klassikbetrieb – die ehemalige Musical-Hochburg Theater an der Wien ist ihm auch anheim gefallen – ist das ein billiges Schattenreich. Und kann natürlich mit dem Nimbus, der Strahlkraft, der künstlerischen Werthaltigkeit von Wagner, Mozart, Mahler nicht mithalten. Und dem künstlich, wiewohl gekonnt hochgeschraubten Marktwert von Anna Netrebko, David Garrett und Lang Lang.
Das „System Klassik“ nährt sich aus seltsamen Widersprüchen: einerseits der Wucht und Beharrungskraft eines Öltankers, was seinen gesellschaftlichen Status und die finanzielle Unterfütterung betrifft. Die Zahlen im CD-Markt steigen wieder, wenn auch in einem Umfeld, das zuvor seit dem Jahr 2000 jährliche Verkaufsrückgänge zwischen fünf und fünfzehn Prozent eingefahren hat. Andererseits hat das Genre mit einem schlichten demoskopischen Problem zu kämpfen: 64 Prozent der Klassikkäufer sind 50 Jahre und älter. Der Kulturwissenschaftler Martin Tröndle von der Universität Friedrichshafen brachte es in einer Langzeitstudie auf den Punkt: das Publikum stirbt aus. Profaner formuliert: es wird in den nächsten 30 Jahren deutlich schrumpfen, zumindest um ein Drittel. Die Gegenstrategie von Firmen wie Deutsche Grammophon, Decca und Sony Classics: Konzentration auf wenige Superstars, intensive Verzahnung mit dem Tournee- und Konzertbetrieb, ungenierte Partizipation am ehern festgeschriebenen Subventionierungsmechanismus für repräsentative Hochkultur.
Von gigantomanischen Turmbauten zu Babel, wie etwa der Elbphilharmonie in Hamburg (oh ja, wir alle haben den „Spiegel“-Artikel gelesen!) profitieren auch die Wiener Philharmoniker. Vom darbenden ORF-Radiosymphonieorchester profitieren auch die Salzburger Festspiele. Die Staatsoper, die diverse Klangkörper via Beamten-Gehaltsschema ernährt, ist der wichtigste Knotenpunkt im Geflecht. Und natürlich käme niemand auf die Idee, japanischen Touristen, US-Industriemillionären und deutschen Börsenspekulanten die international bekannteste Institution wegnehmen zu wollen. Die Kulturpolitik ist zuvorderst Verteilungspolitik: achtzig Prozent (oder mehr) des Budgets sind fix verplant, auf Jahre und Jahrzehnte hinaus, scheinbar oder tatsächlich unabänderlich. Konservativ, also besitzstandwahrend, im tatsächlichen Wortsinn. Der Bund stellt traditionell rund 95 Prozent (zuletzt insgesamt annähernd 113 Millionen Euro) seines Musikbudgets den Sparten „Klassik“ und „traditionelles Musiktheater-Repertoire“ zur Verfügung. Für zeitgenössische E-Musik bleiben 3,5 Prozent, die übrigen Genres (Rock/Pop, Jazz, World Music, Dance, Volksmusik) dürfen den kümmerlichen Rest von 2 Prozent (!) unter sich aufteilen.
Da jetzt aber auch der österreichische Film boomt, die Literatur und ein wenig sogar die heimische Popularmusik, kommen die Lordsiegelbewahrer der Tradition tendenziell in Argumentationsnot. Wollen wir auf ewig ein Museum sein, ein Mausoleum, ein Musentempel konservativer K&K-Grandezza – oder eventuell doch auch in Zeitgenössisches oder gar Zukunftsverdächtiges investieren?
Diese Frage wird sich nicht länger vom Tisch wischen lassen. Dieses Thema ist wichtiger, drängender, brisanter denn je. Gut, dass die Klassikaner lautstark an ihrem eigenen Ast sägen (die stetige Selbstbeschädigung erinnert ein wenig an jene der Katholischen Kirche). Götterdämmerung inmitten einstürzender Altbauten.
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