„Der Tod ist die beste Erfindung des Lebens“. Dieser Gedanke ist, bei aller Traurigkeit des Anlasses, Musik in meinen Ohren. Denn der Tod, der Abschied, das Hinter-sich-Lassen ist ein Produktivfaktor. „Krise ist“, wie Antonio Gramsci postulierte, „wenn das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann“. Und wir alle stecken tief in der Krise. Und müssen irgendwie herausfinden. Nur einer nicht (mehr).

Der Tag, an dem ich diese Zeilen in den Computer hämmere, ist ein denkwürdiger. Nicht nur, dass sich die Anzeichen mehren, dass demnächst Griechenland endgültig pleite ist (welche Auswirkungen dieser Umstand auf Europa und den Rest der Welt hat, wird sich erst weisen). Der Tag wird uns auch in Erinnerung bleiben als jener, an dem Steve Jobs starb. Oder, wohl präziser, als jener Tag, an dem sieben Milliarden Menschen erfuhren, dass einer nicht mehr unter ihnen weilt, den man bis in die hintersten Winkel dieses Planeten kennt. Der Gründer und Kopf der Firma Apple mit Sitz in Cupertino, Kalifornien wurde umgehend in Nachrufen als „Visionär“, „kreatives Genie“ und „IT-Revolutionär“ gewürdigt. Eine fast schon messianische Zuschreibung für einen manischen Marketing-Maschinisten und Unternehmer, der tatsächlich die Informationstechnologie, die Medien- und Entertainment-Branche der letzten drei Dekaden geprägt hat. Auch – und zuvorderst – die Musikwelt.
Und das in mehrfacher Hinsicht. Einerseits hat sich der Computer rasant als wesentliche Innovation, als zentrales Tool des Musiker-Daseins des 21. Jahrhunderts erwiesen (und es ist kein Zufall, dass gerade Geräte mit dem Apple-Logo besonders beliebt bei Musikern, Grafikern, Schreibern und Kreativschaffenden generell waren und sind). Als (Universal-)Instrument ist der PC – die Gattungsbezeichnung schliesst Macs selbstverständlich ein – historisch ähnlich wichtig wie die erste, aus Bein geschnitzte Flöte, die Trommel, die Geige, die Elektrogitarre oder das Klavier. Einerseits lassen sich dem Gerät Töne aller Art entlocken, andererseits hat es längst unzählige zusätzliche Funktionalitäten in sich aufgesogen: vom Synthesizer bis zum kompletten Tonstudio. Ein handlicher Laptop ersetzt heute oft ein meterbreites Mischpult, ganze Racks und Regale voll Hardware und hinterdrein – zumindest metaphorisch, oft aber auch real – auch noch Plattenfirmen, Vertriebslagerhäuser, CD-Stores, Radiosender und Konzertbühnen. Dass ich diese Zeilen auf einem MacBook Air schreibe und gleichzeitig Johann Sebastian Bachs gleichnamige Suite höre, hätte sowohl dem Komponisten Bach wie auch dem Produktfetischisten und Musikliebhaber Jobs gefallen.
Andererseits ist Musik – von wegen „Air“ – ein freies, atmendes, nicht greif- und fassbares Fluidum, das sich auch von noch so ausgeklügelter Hardware nicht in noch so elegante Aluminiumformen zwingen lässt. Das wusste wohl auch Steve Jobs. Und er wusste noch mehr: wenn man Musik von ihren „Tonträgern“ befreit – den Wachszylindern, Schellacks, Schallplatten, Tonbändern, MusiCassetten und anderen historischen Begleiterscheinungen des „Festhaltens“ eines flüchtigen Momentums –, dann hat das revolutionäre Folgen. Implikationen, die nicht nur die Art und Weise, wie wir Musik erzeugen, sondern auch, wie wir sie wahrnehmen, besitzen, nutzen, suchen, finden, transportieren, katalogisieren, bezahlen und hören grundlegend verändert.
Es gibt ein Foto von Steve Jobs, das zu meinen Lieblingsfotos überhaupt gehört: es zeigt einen Mann alleine in einem grossen, fast leeren Zimmer, im Schneidersitz auf dem Holzboden sitzend, sehr entspannt, dabei sehr konzentriert. Man schreibt das Jahr 1982. “This was a very typical time. I was single. All you needed was a cup of tea, a light, and your stereo, you know, and that’s what I had” hat Jobs selbst dieses annähernd ikonografische Bild kommentiert. Eine Tasse Tee, eine Lampe – und eine Stereoanlage. Plus ein Stapel Schallplatten. Musik als Lebens-, Überlebens-Mittel.
Jobs war als Kind der Rock’n’Roll-Ära, der Sixties und Seventies (und damit der vielleicht spannendsten Pop-Ära überhaupt) untrennbar mit dem Sound seiner Zeit und den Ideen, die er transportierte, verbunden. Das zeigte sich schon beim Firmenschild seines Garagenunternehmens – die Beatles hatten eines gleichen Namens. Und Jobs hat auch später, viel später noch darüber nachgedacht, wie er den Musikern und kulturellen Meinungsführern etwas zurückgeben könnte. Eventuell mehr als der Durchlauferhitzer Musikindustrie selbst. Denn iTunes wurde zur führenden Software, der iTunes Music Store zur ersten legal aufgesetzten, kommerziell funktionierenden Download-Plattform und der iPod zur „ersten kulturellen Ikone des 21. Jahrhunderts“, wie der Soziologe Michael Bull der englischen Universität Sussex verkündete. Über das iPhone und die bislang neueste Inkarnation, das iPad, brauchen wir gar nicht diskutieren: Steve Jobs und seine Mitstreiter haben seit der Jahrtausendwende den Musikmarkt annähernd auf den Kopf gestellt.
Es ist ein gewaltiger, positiver Treppenwitz der Geschichte, dass sich diese intensive biografische und marketingtechnische Verzahnung mit der Pop-Kultur als Rettung für den lange Jahre maroden Computer-Hersteller erwies – und letztlich sogar als alchemistische Zauberformel schlechthin: der neuerdings scheinbar „wertlose“ Treibstoff Musik war es, der Apple – über den Verkauf von innovativer Hardware – zum zeitweise wertvollsten Konzern dieses Planeten wachsen liess.
Man muss nicht jedes Detail der Entwicklung gutheissen (über die Restriktionen von iTunes ärgern sich z.B. täglich Millionen User, aber es gibt auch gute Gründe dafür, warum die Software so ist wie sie ist), wird aber – zumindest als publikumszugewandter Künstler, Label-Betreiber oder Musikmanager, eventuell aber auch als auf Autarkie bedachter Selbstvermarkter – einige noble, clevere und edukative Züge in der Apple-Philosophie entdecken. „It’s not stealing – it’s good karma“ ist einer davon. Natürlich schwingt da ein gehöriges Quäntchen Pathos mit. Aber wo bitte in Zeiten wie diesen tut es das nicht?
Jobs mag sich später von der hippiesken Feelin’ Good-Lifestyle-Ideologie entfernt haben. Manche meinen gar, Apple wäre heute der gleiche Hort des Bösen wie jedes börsennotierte Grossunternehmen. Oder gar schlimmer: ein Konzern, der vom libertären David zum restriktiven Goliath mutiert sei. Zum arroganten Kontroll-Freak. Und zur fettgefressenen Cashcow. Ich persönlich sehe das nicht so: die Stringenz, Sicherheit und Verlässlichkeit der nutzerorientierten Politik von Apple überwiegen alle Einschränkungen gegenüber einer bisweilen ins grotesk Anarchistische kippenden, grenzenlosen User-Freiheit. Man kann mit guten Gründen aber auch der exakt konträren Meinung sein. Letztlich steckt die Diskussion noch in den Kinderschuhen: der Gesetzgeber, aber auch der Konsument konnte mit den Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte kaum Schritt halten.
Ob uns Orwell blüht oder doch eher das digitale Elysium, kann der wesentliche Schrittmacher der Industrie, Steve Jobs, nicht mehr persönlich mitbestimmen. Aber wir können es. Als Musiker, als Kreative, als Bürger, als Menschen. Und wir sollten, abseits von allem Pathos, das heute und morgen und wahrscheinlich noch lange in all den Nachrufen, Würdigungen, Grabreden und persönlichen Erinnerungsstücken (mit nur wenigen Gegenstimmen) mitschwingt, ab und an einige Zeilen von Jobs memorieren. Zeilen und Worte, die auf den Punkt bringen, worum es eigentlich geht, wenn es überhaupt um etwas geht. Um den kreativen Geist. Um den Willen zur Veränderung. Um das Leben selbst.
„Der Tod ist höchstwahrscheinlich die beste Erfindung des Lebens. Er ist der Vertreter des Lebens für die Veränderung. Er räumt das Alte weg, um Platz zu machen für das Neue. (…) Deine Zeit ist begrenzt, also verbrauche sie nicht, um das Leben anderer zu leben. Sei nicht gefangen von dem Dogma – welches sagt, dass Du mit den Resultaten der Gedanken anderer Leute leben musst. Lass’ nicht den Krach anderer Meinungen die eigene innere Stimme zum Verstummen bringen. Und das Allerwichtigste, habe den Mut, Deinem eigenen Herzen und der Intuition zu folgen. Die wissen irgendwie schon genau, was du wirklich sein willst. Alles andere ist zweitrangig.“
Danke, Steve Jobs. Ruhe in Frieden (der Himmel könnte durchaus eine neue Benutzeroberfläche brauchen, die alte – „Religion“ – wirkt ziemlich angestaubt). Und jetzt: Musik.
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