Archive for Januar, 2012

Taxi, bitte!

28. Januar 2012

MASCHINENRAUM. Die Kolumne in der „Presse am Sonntag” (145) Apps wie “MyTaxi” stellen Taxilenker vor ein brisantes Dilemma: Tradition oder Moderne?

„Krise ist, wenn das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann.“ Dieser denkwürdige Satz des Schriftstellers und Philosophen Antonio Gramsci wird beim nächstbesten Taxler, der Sie von A nach B chauffiert, wahrscheinlich auf wenig Gegenliebe stossen – erst recht, wenn er herausfindet, dass Gramsci ein alter Marxist und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens war.

Den Versuch wäre es allerdings wert, solchermassen eine Meinungsäusserung des Fahrzeuglenkers zu provozieren. Und gleich ein paar Stichworte in die launige Unterhaltung einzuflechten – allerdings nicht zur Wetterlage oder zur persönlichen Befindlichkeit, sondern zum Taxi-Gewerbe und dem Stand der Technik in dieser harten Branche. Denn Gramscis Postulat beschreibt recht zutreffend, was gerade los ist unter den Lohnfuhrwerkern der Jetzt-Zeit. Und ihren Vermittlern in den Taxifunkzentralen.

Letztere sehen sich seit einiger Zeit von Konkurrenten bedroht, die clevere Applikationen („Apps“) für Apple- und Android-Smartphones entwickelt haben. „MyTaxi“ etwa, ein Service des gleichnamigen Hamburger Unternehmens, stellt einen direkten Kontakt zwischen Taxifahrern und Fahrgästen her, ohne dass es krächzenden Funkverkehrs bedarf. Die App zeigt dem per GPS lokalisierten Kunden die in der Nähe befindlichen Fahrzeuge, die man per Klick zum Zielort bestellen kann. Darüberhinaus kann man den Anfahrtsweg und die Zeit im Auge behalten – und die Dienstleistung im Nachhinein bewerten (kein geringzuschätzender Bonus bei der Balkan-Atmosphärik vieler – nicht aller – hiesiger Taxi-Droschken).

Bislang steht der Dienst in 30 deutschen Städten sowie in Zürich und Wien zur Verfügung. Über 7000 Fahrer nutzen die Software bereits. Nun hat sich der Autokonzern Daimler an dem StartUp beteiligt und pumpt zehn Millionen Euro in die weitere Expansion. Auch die deutsche Telekom und Xing-Gründer Lars Hinrichst sind mit von der Partie.

Und wie reagieren die Taxifunk-Lokalkaiser? Sie gehen gegen Taxiunternehmer und -lenker – ihre Kunden! – vor, weil sie den Nutzwert dieser neumodischen Apps ausprobieren. Und eventuell draufkommen, dass es innovativer, besser und billiger geht. Ohne Konkurrenzklauseln und Knebelverträge. Und sie ärgern sich darüber, dass ihre eigenen, lokal begrenzten Apps auf geringere Resonanz stossen, weil sie „österreichische Erfindungen sind“, wie sich ein Branchenvertreter umgehend bemühte zu erklären. Aber haben sie je Werbung dafür gemacht? Und warum bloss kommt einem diese trotzige Tradition („Jo, dürfen’s denn dös?“) so bekannt vor in diesem Land?

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Mehr Funkverkehr

24. Januar 2012

MASCHINENRAUM. Die Kolumne in der „Presse am Sonntag” (144) “Airplay” ist bequem, aber nicht ohne Macken. Trotzdem ist die HiFi-Zukunft eine drahtlose (2).

Vorweg: die getesteten Geräte sind durchaus eine Kaufempfehlung wert. Und zwar durch die Bank. Aber das eine oder andere Detailproblem soll, nein: darf nicht unerwähnt bleiben. Sie erinnern sich vielleicht – vor Weihnachten hatte ich angekündigt, mir HiFi-Bausteine mit „Airplay“-Funktionalität zur Brust zu nehmen. Also der Fähigkeit, Musik drahtlos zu empfangen, etwa vom Laptop, iPad oder iPhone, und in bester Qualität an den Verstärker und die Lautsprecher weiterzureichen. So spielt heutzutage die Musik, wenn man nicht – und dafür hege ich durchaus auch Sympathie – trotzig auf CDs oder gar Vinylschallplatten beharrt. Letztere stehen mindestens so in Mode wie „Streaming Devices“, aber man kann, darf und sollte sich ja das Beste aus verschiedenen Welten holen.

Ich hatte also eine Sony CMT-G2 NIP daheim stehen, eine solide Mini-Anlage, die der HiFi-Abteilung des japanischen Elektronikriesen wieder einen Hauch von Pep, Innovation und Wertigkeit verleiht. Ausserdem ein Gerät von Denon mit der Typenbezeichnung DNP-720AE, einen sogenannten Netzwerk-Audio Player. Und dann noch ein kleines Kästchen von Pro-Ject, die Stream Box DS.

Letztere beherrscht aber nicht das von Apple entwickelte und vermarktete „Airplay“, was mir bei der Bestellung zunächst gar nicht aufgefallen war. Dafür etwas, was sich rasch als Ärgernis etwa beim Denon-Probanden erwies: die dort fehlende „Gapless“-Fähigkeit, also die flüssige Verbindung zwischen einzelnen Tracks und Songs ohne Pausensprung und Unterbrechungen. Sollten Sie gern Live-Konzerte hören, werden Sie das sehr zu schätzen wissen. Und für das bequeme, aber zwangsweise mit der Software iTunes gekoppelte „Airplay“ hat die österreichische Firma andere, offenere Funk-Standards herangezogen – „uPnP“ bzw. „DLNA“. Warum? Pro-Ject- Mastermind Heinz Lichtenegger: „Weil ich nicht an „Airplay“ glaube. Die Lizenzzahlungen an Apple möchte ich mir und meinen Kunden ersparen. Der Trend geht in Richtung offene Systeme.“ Gut gebrüllt, Löwe! Aber nicht selten siegt die Bequemlichkeit (auch bei mir).

Abseits aller Trends gilt es nüchtern zu vermerken: störanfällig sind alle Geräte. Es kommt selten, aber doch zu – mehr oder minder irritierenden oder gar enervierenden – Aussetzern. Das hat fast ausschliesslich mit der Güte des WLAN-Heimnetzwerkes zu tun, sollte also nicht den HiFi-Hardware-Entwicklern angelastet werden. Im Negativ-Fall kann man ja immer noch eine Verdrahtung ins Auge fassen. Aber ich schätze mal, genau das war es, was man eigentlich vermeiden wollte.

L’Etat cest moi!

18. Januar 2012

Dieser Tage läuft ein Film in den Kinos an, dem viele Seher zu wünschen sind – nicht zuletzt, weil er neue Sichtweisen und Einblicke in uralte Menschheitsträume und individuelle Umsetzungsversuche ermöglicht. Paul Poets „Empire Me“: ein Reiseführer.

„Millionen glauben an den Zusammenhang
von Schweiß, Gefühl und Ehrlichkeit
In Wahrheit zählt nur die Kunst des Zitats
In Wahrheit zählt nur der richtige Moment
Am Ende der Etappe
Am Anfang der Zukunft“

(Fehlfarben)

Zwischendurch, ein flüchtiger Moment einer langen filmischen Reise, taucht unvermittelt ein Schild auf. Es ist eine Spruchtafel, wie sie auf jeder Demonstration ins Bild gereckt wird, zusätzlich zur erhobenen Faust und den obligaten Spruchbändern der internationalen Protest-Folklore. Dieses Schild aber sagt etwas Ungewohntes, Ungewöhnliches, Denkwürdiges: „There is no Planet B.“ Es gibt keinen zweiten Planeten wie unseren.

Und ob es ihn gibt. Es gibt diesen Planeten, und auch Planet C, D, E. Und so fort. Sie existieren in der Phantasie. Und bisweilen existieren sie auch real, als Teilkörper des einen grossen Erdenrunds, das wir alle so gut zu kennen glauben. Und doch nicht kennen. Wenn wir uns auf die gängige Definition von Himmelskörpern versteifen, dann sind diese Orte eventuell keine Planeten. Sondern Trabanten. Sternschnuppen. Wunschvorstellungen. Aber sie verdinglichen sich. Bisweilen.

„Im 21. Jahrhundert kämpfen über 500 selbsterklärte Länder am Rande der Globalisierung um das Recht auf ein eigenes Territorien und eigene Lebenregeln. Könige, Piraten, Träumer.“ Die beschwörende Stimme des Narrators nimmt uns sanft bei der Hand. Nimmt uns mit auf eine Irrfahrt, die einen Ausgangspunkt kennt, aber keine klar auszumachenden Endstationen. Nur Etappenziele, Leerräume, Transitbereiche, Zwischenstationen. „Dies ist die Geschichte von sechs solcher Gegenwelten. Sechs Geschichten von der Suche nach Unabhängigkeit.“

Unabhängigkeit wovon? Wofür? Erwin Strauss, Autor von denkwürdigen Büchern wie „How To Start Your Own Country“ oder „Cheap Nukes. Die Konsequenzen billiger Massenvernichtungswaffen“ führt ins Thema ein. Grosse Städte und Nationen geben anno 2011 potentielle Angriffsziele ab, mächtige Armeen und Flotten werden immer unvorteilhafter. Der Trend, sagt Strauss, gehe folgerichtig hin zu Mikro-Nationen. Kleinen, unauffälligen, staatsähnlichen Gebilden und Gemeinschaften, die an der Grenze zur Non-Existenz existieren. „Die Frage ist, ob wir – wenn man den Vergleich zum Untergang des römischen Imperiums ziehen will – im 2. oder 5. Jahrhundert leben.“ Der Untergang des Status Quo, des vertrauten internationalen Machtgefüges ist für Strauss & Co. jedenfalls nur eine Frage der Zeit. Es liegt an uns, rechtzeitig Alternativen zu erkunden. Fluchtorte. Raststationen im Maelstroem von Politik, Gesellschaft, Raum und Zeit.

Schnitt. Station eins: das Fürstentum von Sealand. Lage: sechs Meilen entfernt der Küste von Suffolk, England. Grösse: 500 Quadratmeter. Einwohnerzahl: 2. Unabhängig seit 1967. Da in internationalem Gewässer liegend, als erste anerkannte Mikronation nach internationalem Seerecht. Es ist ein Königreich aus Rost. Eine alte Flak-Plattform aus dem zweiten Weltkrieg. Das Wort des Regenten – er heisst Prince Michael of Sealand, sein Thronfolger Prince James – ist Gesetz. Die Regeln sind einfach. Steuern gibt es keine. Erlaubt ist, was Geld einbringt. Vom Fischfang bis zu Serverfarmen. Red Bull ist auch vertreten, zumindest mit einem Werbebanner. Die Gemahlin des Prinzregenten schläft mit einer Pistole unter dem Kopfpolster. Der Ort wirkt unwirtlich, TV-Bilder zeigen ihn brennend. Inmitten der See. Über Freiheit an und für sich, philosophiert Michael of Sealand an Bord eines schwankenden Bootes, wird zuwenig nachgedacht. Erst wenn sie abgeht, lernt man sie begreifen.

Schnitt. Station zwei: ein Operettenstaat. The Principality of Hutt River. 75 Quadratkilometer, ein vorgeblich souveränes Fürstentum auf dem ehemaligen Straflager-Kontinent Australien. Die Bevölkerung zählt gerade einmal zwanzig Köpfe. Man verweist aber auf eine eigene Polizeigarde, Gerichtsbarkeit, Währung. Und einen Rolls Royce als Dienstfahrzeug von Prinz Leonard Casley. Er ist – l’etat c’est moi! – für die Ernennung von Diplomaten und Repräsentanten von Hutt River verantwortlich, über zweihundert an der Zahl. Und höchstpersönlich auch für die Ausgabe von Briefmarken und Stempeln. Überhaupt ist man auf dem fünften Kontinent, der noch einige Mikrostaatsgebilde mehr beherbergt, in solch banale Insignien der Selbstbestimmung verliebt. Prinz Leonard schlägt gern auch den einen oder anderen Besucher zum Ritter der untraurigen Gestalt. Jesus segnet die Zeremonie vom Ölbild herab.

Station drei verschlägt uns nach Italien. Ins Tal von Piedmont im Norden des Landes. Hier, auf immerhin 75 Quadratkilometern, residieren die Bürger der „Federation of Damanhur“. Ein rundes Tausend. Oder sagen wir so: die oberen Eintausend, die A-Klasse, die, die sich selbst Tier- und Pflanzennamen geben. Alle anderen zählen zu niedrigeren Kasten. Oder gar zu den nur temporären Angehörigen. Zu Touristen in einem „esoterischen Disneyland“, das nur lachende Gesichter kennt. Oder kennen will. Seit 1975 betreibt man dieses Freistaat-ähnliche Gebilde aus spiritueller Kommune, Baumhaus-Siedlungen und unterirdischen Kulträumen, die als Kathedralen und Weiheräume einer eklektisch-lustvollen Religionsklitterung besichtigt werden dürfen. Hier wandeln Sekten-Mitglieder wie aus dem Klischee-Bilderbuch: mit Pflanzen wird kommuniziert und musiziert, die Reise „zur Wiedererweckung der inneren Göttlichkeit“ angetreten, Atlantis und UFOs sind sowieso ein Thema. Und Science Fiction-Apparaturen, die H.R.Giger entworfen haben könnte oder Hermann Hesse in seiner „Glasperlenspiel“-Phase, dienen der Reinigung und Heilung. Bloss: wovon?

Abermals: Schnitt. Schauplatzwechsel. Überraschenderweise nach dem Osten Deutschlands. 18 Hektar Land bei Belzig, achtzig Kilometer entfernt von Berlin. HIer, in einer ehemaligen Missionarsstation, die von den Nazis zum Sportzentrum umfunktioniert worden war und danach von der DDR zum Stasi-Trainingslager, residiert heute das ZEGG. Das „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“. Ein Hybrid aus Feriensiedlung, Öko-Versuchslabor, Psychoseminar und Selbsterfahrungsgruppe. Achtzig ständige Mitglieder kennt die Gruppe, Gäste sind herzlich willkommen. Nicht zuletzt, daraus macht man kein Hehl, als potentielle Teilnehmer an absichtsvoll-spontanen erotischen Abenteuern. Die Sexualität steht im Mittelpunkt, Tempel für das „Liebe-Machen mit Gott“ kennt man im ZEGG nicht. Dafür Waldhütten für die Zweisamkeit und Separées für das „Schwimmen in der Ursuppe“, einer Umschreibung für Ölmassagen mit gleitendem Übergang zur Gruppen-Orgie. Ein wenig fühlt man sich an die legendäre Mühl-Kommune im burgenländischen Friedrichshof erinnert.

Christiania dagegen, Drehort No. 5, ist ein Kriegsschauplatz. Ein Ort des permanenten Kleinkriegs zwischen Hippies, Rockern, Säufern, Obdachlosen, Polit-Aktivisten, Dealern, Bikern, Schwulen und Feministinnen. Vereint ist man nur im Kampf gegen die Staatsgewalt, sonst ist es ein Semi-Rat Race zwischen den „Ausradierten des Mainstreams“. Christiania, mehr Freistadt als Freistaat, ein sozialer Vulkan mitten im Zentrum von Kopenhagen, ist 0,34 Quadratkilometer gross und beherbergt eintausend permanente Einwohner. Oder ein paar mehr. Seit 1971. Filmen ist verboten, tut man es doch, wechselt man besser die Strassenseite. Nächtens kippt (im Kontext der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen) die Stimmung, Musik, Tanz, Bier und Demo-Folklore stehen in blitzlichtgrellen Kontrast zu Hubschraubern, Tränengas und beständig kläffenden Polizeihunden. Ein gespenstisches Szenario, das in sich eine absurde, antagonistische Heimeligkeit birgt. Der aktuelle Status Quo: das oberste Gericht entzog Christiania vor kurzem den Unabhängigkeitsstatus, im April 2011 stimmten die Bewohner dem Angebot des Staates Dänemark zu, Grund und Gebäude für umgerechnet 20 Millionen Euro zu kaufen. Utopia for sale. And sold.

Schnitt. Die letzte Station auf der Reise, die die Crew von „Empire Me“ angetreten hat. Und wir mit ihr. Diese Etappe beginnt im Golf von Triest, in Ankaran in Slowenien. Und endet im Canale Grande von Venedig. Zwischen diesen Polen, Luftlinie 100 Meilen, treiben die Schwimmenden Städte von Serenissima. Drei bizarre Flosse, zwischen 31 und 47 Quadratmeter groß. Schrottskulpturen mit Aussenbordmotor, erdacht wie von einem albtraumgeplagten André Heller. Oder dem Regisseur der Fortsetzung von „Waterworld“, dem man „Mad Max“ als Style-Vorlage anempfohlen hat. Die Besatzung, erstaunliche 30 Mann (und Frauen) stark und „völlig pleite“, ist planlos, aber frohgemut. Der slowenische Hafenmeister inspiziert die schwimmenden Objekte, scheut jedoch eine Testfahrt. Es gibt nur rudimentäre Navigationseinrichtungen. Als Vertreter der staatlichen Ordnung gelangt er letztlich zur Einsicht, die Behörde hätte „keine Regeln für Kunst“. Das rettet die Kapitäne und Leichtmatrosen des mikro-utopischen Seespektakels nicht unbedingt vor dem fast sicheren Untergang. Aber: trotz aufkommender Bora-Fallwinde erreicht man Venedig. Es ist eine Lektion in Demut, ein Überlebenskampf in Zeitlupe. In Würde beendet. Mit Stolz und Bravour über die Runden gerettet. Mission Status: completed.

Man wünscht diesem Debut – das bisweilen mehr einer Sequenz von Fieber-Visionen nahekommt als einem herkömmlichen Dokumentarfilm, eventuell auch einem um Gelassenheit bemühten Rodeoritt – nicht nur offene Münder. Sondern offene Augen, Ohren, Ganglienstränge. Und, ja, mindestens eine „Spiegel“- oder „Newsweek“-Titelstory. Dieser Streifen kommt, wie jede instinktiv treffsichere Dokumentation, zum richtigen Zeitpunkt. Eine höhere Metapherndichte für die Enge, zeitgleiche Weite und die dauerhaften Sehnsüchte unserer Gesellschaft wird im aktuellen Filmschaffen schwerlich zu finden sein. Rund um den Globus.

Paul Poet wird seinem Namen gerecht: „Empire Me“ ist eine kühne Reise ins Licht, das Gegenteil einer Erkundungsreise ins Herz der Finsternis, wie sie Joseph Conrad und Francis Ford Coppola beschrieben haben. Da Licht aber den Schatten in sich trägt, muss nicht jede Utopie positiv bewertet werden – zumeist ist es eine Frage subjektiver, unterschiedlich liberaler, ja radikaler Standpunkte und Sichtweisen. Entstanden in fünf Jahren, mit der fixen Idee der mehr als ansatzweisen Auslotung gesellschaftlicher Anti-Pole und Gegenentwürfe im Hinterkopf und Ezzesgebern wie Robert Jelinek („State of Sabotage“) im Talon, beweist „Empire Me“, dass die wahren Abenteuer eben nicht nur im Kopf sind. Aber wenn man sie – um nochmals André Heller zu bemühen – dort nicht sucht, wird man sie auch in der Realität nicht finden. Hier liegen sie, aufgereiht auf einer Perlenkette aus Celluloid und Erzählwut, zum Greifen nahe.

Solides Holz

17. Januar 2012

Von der Rückkehr zum Mäzenatentum, der Ungeliebtheit des Schönklangs und gerade mal einer Handvoll Facebook-Freunde: col legno, ein kleines Wiener Avantgarde-Label, als Zerrspiegel der grossen Musikindustrie.

Das Firmenschild der Tonmanufaktur gibt einen ersten Hinweis. Denn „col legno“, einen Ausdruck aus dem Italienischen, muss ein Bildungsbürger des 21. Jahrhunderts zumeist erst nachschlagen. Um ihn hinfort als Signal einer besonders ausgeprägten „sophistication“ zu verstehen. „Col legno“ bedeutet „mit dem Holz“. Und bezeichnet in der Sprache der Musiker eine Anweisung beim Spiel der Streichinstrumente, etwas exzentrisch, jedenfalls abseits aller Routine. Dabei dreht man den Bogen um und regt die Saiten mit der Bogenstange zum Schwingen an, „col legno tratto“. Oder man schlägt sie mit dem Holz des Bogens, auch „col legno battuto“ genannt. „Viele Spieler verweigern jedoch die Ausführung dieser Strichart“, verrät Wikipedia, „oder legen sich einen Zweitbogen zu, da bei dieser Technik das Holz der Bogenstange zu Schaden kommen kann.“ Die Beendigung der Komponisten-Anweisung, die seit dem 17. Jahrhundert bekannt ist, aber erst dreihundert Jahre später wirklich in Mode kam, tritt durch „coll’arco“ ein.

Beim Objekt unserer Betrachtung ist ein Ende nicht in Sicht. Im Gegenteil. Betritt man das kleine, karge, aber stimmungsvolle Büro im mittelalterlichen Heiligenkreuzerhof in der Wiener Innenstadt, schlägt einem Tatendrang und Optimismus entgegen. Das ist in Zeiten, wo Schmalhans Küchenmeister ist – und in der Musikindustrie ist er es seit einem guten Jahrzehnt –, schon aussergewöhnlich. In etwa so extraordinär, wie es das Programm des Labels mit dem ausgesuchten Firmennamen: col legno widmet sich der Neuen Musik. Der modernen Klassik. Oder auch den Klangwelten früherer Jahrhunderte in ungewohnten Zugängen und aufregenden Interpretationen. Dafür stehen Namen wie Wolfgang Rihm, Luigi Nono, Arnold Schönberg, Edgar Varèse oder auch, letztere fast schon Pop-Jünglinge in diesem Kontext, Wolfgang Mitterer, Peter Herbert oder Patrick Pulsinger. Es ist, man darf das mit intellektueller Gelassenheit sagen, ein Minderheitenprogramm. Auf die ökonomischen Aspekte kommen wir noch zu sprechen.

Soviel vorweg: die „Schubertlieder“ von Franui sind der Renner des Avantgarde-Labels. Mit über sechstausend weltweit abgesetzten CDs ragen sie als einsame Verkaufsspitze aus dem Katalog. Viele weitere Titel schaffen kein Zehntel davon. Vielleicht liegt es daran, dass die Schubert-Interpretationen der Osttiroler Neutöner „ein Befreiungsschlag“ sind, wie es der „Weltwoche“-Kritiker Thomas Wördehoff formulierte. „Sie befreien die Lieder des jungen Komponisten aus der fast zweihundertjährigen Gefangenschaft, in der sie von wechselnden Kennern mit unfroher Strenge bewacht wurden. Franui führen uns in die überfüllten Beisln, in denen Schubert trotz Alkohol, Tabak, Lärm und Schmerzen spielte und spielte und spielte. An Orte, wo er vielleicht schon das scheele Grinsen seiner späten Anverwandten Strawinsky, Schostakowitsch, Weill und Lennon bemerkt hat. Dort, wo man den Blues liebt.”

Das ist in der Tat eine Ansage an die Klassikaner, die bisweilen eher bis zum bitteren Ende an ihren Dünkeln festzuhalten scheinen als den Anschluss an die Post-Lennon-Ära zu suchen. Ausserdem spielen die Stars des Labels, die auch Brahms und Mahler im Repertoire haben, einfach „zum Niederknien schön”, wie die „Berliner Zeitung“ festhielt. Aber es ist nicht Schönklang, den die Macher von col legno unbedingt suchen. Franui-Mitglied Andreas Schett, der seit 2005 gemeinsam mit Gustav Kuhn das Programm bestimmt: „Uns interessiert Buntheit, nicht Beliebigkeit. Wir wollen weg von eingeschränkten Blickwinkeln, ideologischen Behinderungen und kulturellen Eingrenzungen.“

Die Offenheit und Stringenz des Zugangs schlägt sich auch in der unverwechselbaren Optik der Veröffentlichungen nieder. Ohne flächendeckende Porträtfotos, dafür mit kargen Schriftelementen, leuchtkräftigen Farbkombinationen und ausführlichen, essayistischen Booklets ausgestattet, stechen die col legno-Produkte aus dem zumeist klischeehaft-langweiligen Umfeld heraus. Dabei schien das 1982 im Dunstkreis der Donaueschinger Musiktage gegründete Label zunächst auf unbestimmte Dauer im elitären Elfenbeinturm angesiedelt. „Neue Musik hat einen Namen“, verriet das Firmenmotto, aber er war nur Eingeweihten bekannt. Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stand man vor dem Zusperren.

Auftritt: Christian Köck. Der promovierte Arzt und ausgebildete Psychotherapeut, 1958 geboren, ist vielen auch als Politiker und kurzfristiger Bundessprecher des Liberalen Forums in Erinnerung. Als Alleinvorstand der Health Care Company AG, Inhaber eines universitären Lehrstuhls für Gesundheitspolitik und Gesundheitsmanagement und Direktoriumsmitglied der Wiener Konzerthausgesellschaft verfügt er über wenig Zeit, dafür aber ausreichend Liebe zur Musik. Und hier speziell zur Neuen Musik. „Ich höre nicht nebenbei“, so Köck. „Restaurant- und Aufzug-Berieselung sind mir ein Greuel. Was mich interessiert, ist die konzentrierte Ästhetisierung und kulturelle Möblierung des Alltags.“ Dass derlei mit der finanziellen Unterfütterung eines Top-Unternehmers leichter in Angriff zu nehmen ist, versteht sich von selbst. Köck wurde Mäzen. Motor. Mutmacher. Und hauchte col legno ein frisches Selbstverständnis und eine professionelle Arbeitsweise ein. „Man ist nicht in einem Markt, der CDs verkauft“, erläutert er. „Auch wenn das gerade für uns noch nicht endgültig passé ist. Es geht um ein Lebensgefühl, um Kultur, um Kunst in umfassender Form.“ Die Tonträger-Branche selbst befinde sich gemäss Schumpeter in einer Phase der „kreativen Zerstörung.“ Das erhöht, so seltsam das klingen mag, die Chancen für kleine Labels.

Auf den Break Even hofft Christian Köck aber genauso wie seine jungen Mitstreiter Mike Breneis und Peter Kollreider. Irgendwie gelingt es ja auch vergleichbaren Firmen („Von Konkurrenz mag ich hier bewusst nicht sprechen“, so Breneis, „die gibt es in unserem Segment nicht“) wie Kairos, Neos, Wergo oder Winter & Winter, zu leben. Oder auch nur zu überleben. Als Vorbild fällt immer wieder der Name ECM, Manfred Eichers solitäre Jazz & Beyond-Werkstatt. „Man muß halt schauen, daß etwas gelingt wie Keith Jarretts Köln Concert“, merkt Köck an. „ECM hat sich damit auf ewig saniert.“

Bei col legno wurde trotz des weitreichenden Engagements des Medizin-Unternehmers, trotz einer – nicht offiziellen, aber essentiellen – zusätzlichen finanziellen Fundierung durch den Bau-Magnaten Hans-Peter Haselsteiner, trotz wachsender Veröffentlichungspläne (zur Zeit sind es etwa zwölf Produktionen im Jahr) und einer deutlichen Öffnung in Richtung Jazz, Electronica und World Music die Situation doch klammer und klammer. Bis man im Vorjahr die Privatstiftung des Sängers Oskar Czerwenka als ideellen Mitträger gewann. Und eine kräftige Kapitalerhöhung vornahm. „Wir müssen auf Internationalisierung setzen. Wir dürfen kein österreichisches Schett- & Kuhn-Privatmuseum werden.“ Andreas Schett, gemeinsam mit dem Dirigenten Gustav Kuhn für das Programm und als Eigner der Innsbrucker Design-Agentur Circus auch für die Optik von col legno verantwortlich, reagiert gelassen: „Unser Programm zeigt ja, dass dem nicht so ist. Berührungsängste kennen wir jedenfalls keine. Die kosmopolitische Perspektive ist essentiell. Wir vertreiben unsere Produkte auch in den USA, Kanada oder Japan, im Idealfall erreichen wir jeden Winkel dieses Planeten.“

Es sind kleine und kleinste Stückzahlen, die sich so addieren. Und sich langsam, aber stetig zu einem unternehmerischen Gesamtkunstwerk auswachsen. Im col legno-Büro im Heiligenkreuzerhof hat man die Mehrzahl der Veröffentlichungen der letzten Jahre – insgesamt sind es bislang zweihundertsiebenundsechzig CDs – an einer Wand zu einem grossen, farbenfrohen Mosaik zusammengestellt. „Wir wollen Geschichten erzählen“, erläutert Label-Manager Mike Breneis. „Und es hilft uns natürlich, dass man als Nischenlabel seit einigen Jahren weltumspannend mit seinem Publikum kommunizieren kann.“ Wiewohl: auf Facebook findet man erst 143 Freunde. „Wir stehen da erst am Anfang“, bedauert Breneis. „Die ersten achtzehn Fans habe ich persönlich gekannt. Aber mir sind letztlich eintausend Leute, die zuhören, lieber als zehntausend, die sich berieseln lassen.“

Diese Gefahr besteht bei col legno definitiv nicht. Selbst dann nicht, wenn etwa Ruedi Häusermanns „Wetterminiaturen für vier wohlpräparierte Einhandklaviere“ oder – Christian Köcks Lieblings-CD – Franz Koglmanns Haydn meets Cioran-Studie „Nocturnal Walks“ als schnöde MP3s aus dem Internet heruntergeladen werden. Für Digital-Fetischisten bastelt man an einer Hochbit-High Quality-Plattform. Schade findet es der Musikmanager, hier wirklich auf jeden Cent schauen zu müssen. „Es wäre schön, wenn es im Kultursektor analog der Film-, Literatur- oder Verlagsförderung strukturelle Unterstützung gäbe“, so Breneis. „Aber vielleicht schliesst sich ja ein Kreis, wenn man im 21. Jahrhundert wieder zum Mäzenatentum zurückkehrt.“ Der Manager klopft, col legno, auf das Holz des Küchentisches. „Eigentlich leben wir im Schlaraffenland. Wohlgemerkt: einem pekuniär kargen, aber kulturell unendlich reichen Schlaraffenland.“

(CASHFLOW)

Funkverbindung

15. Januar 2012

MASCHINENRAUM. Die Kolumne in der „Presse am Sonntag” (143) “Airplay” ist bequem, aber nicht ohne Macken. Trotzdem ist die HiFi-Zukunft eine drahtlose.

Der Käuflichkeit geziehen zu werden, ist für einen Journalisten kein geringes Problem. Auch der Vorwurf der Gutgläubigkeit oder gar Inkompetenz macht keinen schlanken Fuss. Allerdings kann man getrost abwinken, wenn es sich einmal mehr um den alten Glaubensstreit Apple oder Nicht-Apple dreht. Schreibt man positiv, eventuell sogar begeistert über Produkte der kalifornischen Firma, wird man von Anhängern anderer Ersatzreligionen gern als „Fanboy“ oder eben gar als gedungener PR-Agent denunziert. Auch wenn man das mitnichten ist. Die demütigende Offensivkraft von Apple – sowohl technisch wie auch geschäftlich – lässt die Konkurrenz (lange Jahre war das zuvorderst Microsoft) und ihre Apologeten immer wieder mal in die tieferen Schubladen greifen.

Warum ich Ihnen das erzähle? Weil ich – kaum, dass ich über Apples „Airplay“-Technolgie berichtete, die unkompliziertes Musik-Streaming im privaten Haushalt ermöglicht – böse Leserbriefe bekam. Des Inhalts, dergleichen gebe es ja auch unter anderem Namen (nämlich „DLNA“ oder „UPnP“). Oder von spezialisierten Herstellern (etwa Sonos). Und überhaupt sei die Apple-Entwicklung eine Art Falle, die den Nutzer an die Software iTunes und Fremdhersteller an ein proprietäres, geschlossenes System ausliefere. Gegen deftige Lizenzgebühren.

Nun: das ist nicht unrichtig. Aber Apple schafft es ungebrochen, die Aufgabenstellung zumeist etwas cleverer, konsumentenfreundlicher, eleganter als der Rest des Feldes zu meistern. Und lässt sich gern extra dafür bezahlen. Das ist nicht verboten. Im Gegenteil: der Erfolg der Marke spricht Bände. 2012 soll ja auch der erste Apple-Fernseher auf den Markt kommen. Bin ehrlich gespannt, was ihn von all den anderen TV-Fabrikaten unterscheiden könnte.

Aber ich nehme mir nun – versprochen ist versprochen – auch die „Airplay“-Konkurrenz vor. Der Wiener HiFi-Entrepreneur Heinz Lichtenegger („Pro-Ject“) etwa setzt ganz auf DLNA und verzichtet absichtlich auf die Apple-Duftspur; warum, wird er uns in der nächstwöchigen Kolumne erklären. Bis dahin habe ich einen kleinen, feinen Hinweis: es geht auch ganz ohne Netzwerktechniken, Passwörter und WLAN-Schlüssel. Der Audio-Spezialist NAD hat mit dem „Wireless USB DAC 1“ ein kleines Kästchen im Angebot, das einerseits als Soundkarte und Digital/Analog-Konverter den Klang ihres Laptops oder Homecomputers aufmöbelt, andererseits aber auch als Empfangsstation (mit eigenem Frequenzband) dient. Ein noch kleineres Kästchen dockt per USB-Anschluss an ihrem Rechner an – und schon funkt die Sache. Ohne Brösel. Ohne komplizierte Installation. Ohne Glaubenskrieg.

Soviel vorweg: das schafft „Airplay“ nicht. Jedenfalls nicht ganz. Darüber wird zu reden sein.

Hummer-Los

7. Januar 2012

MASCHINENRAUM. Die Kolumne in der „Presse am Sonntag” (142) Beim “Feuerwerk der Pferdestärken” fallen die Potenzraketen Hummer und Maybach aus. Für immer.

Neulich sah ich das peinlichste Fahrzeug der Stadt. Wenn nicht ganz Österreichs. Es handelt sich um einen weiss lackierten Hummer mit Wiener Kennzeichen. Nun sind Hummer – das Trumm trug nicht zufällig die Aufschrift „Military“ an seinen Flanken – an sich schon ultrapeinlich. Hier handelte es sich aber um eine Stretchlimo (!)-Ausführung.

Man muss sich das so vorstellen: ein ca. sieben Meter langes, mit dunklen Scheiben hochgerüstetes Potenzmittel auf Rädern, das in engeren Gassen kaum um die Ecke kommt. Es soll Leute geben, die sich in solch einer Limousine von Nachtclub zu Nachtclub transportieren lassen. Und das auch noch originell finden. Oder so. Eventuell hat man ja Vertragsbedienstete der Zulassungsbehörde mit einer kleinen Spritztour bestochen, anders kann ich mir die Legalität des alltäglichen Strasseneinsatzes der aufreizenden Blech-Inszenierung nicht erklären.

Geschmäcker und Ohrfeigen sind bekanntlich verschieden. Sensibleren Gemütern mag tröstlich erscheinen, dass die Marke Hummer inzwischen den Weg alles Irdischen gegangen ist. Das letzte Fahrzeug – Modell H3 – rollte am 24. Mai 2010 vom Band. Interesse, die Privatpanzer weiter zusammenzuschrauben, hat man bei Avtotor in Kaliningrad und der Sichuan Tengzhong Heavy Industrial Machinery Company im chinesischen Chengdu geäussert. Aber es scheint nichts draus geworden zu sein. Wo lassen die Hummeristen nun ihr Jahresservice machen? Gute Frage.

Ein ähnliches Problem haben auch die Besitzer der Luxusmarke Maybach. Auch hier hat der Markt gnadenlos dereguliert: die Modelle 57 und 62 – letzteres das längste Serienauto der Welt – wurden wegen mangelnden Zuspruchs eingestellt. Milliardäre müssen jetzt wieder zu schnöden Daimlers, Rolls Royces und Bentleys greifen.

Kleiner Fingerzeig: wer sich nach weiteren Alternativen umschauen möchte, kann sich demnächst auf der „Vienna Autoshow“ umtun. Ein „Feuerwerk der Pferdestärken“ erwarte alle Messebesucher, trommeln die Ausrichter im Vorfeld ihrer Grossveranstaltung. Schiefe Sprachbilder halten jedenfalls keinen Autonarren davon ab, das Wiener Messegelände als Ziel ins Navi einzugeben. Zuletzt waren es rund 150.000, die die Leistungsschau heimsuchten – vom 12. bis 15. Jänner schieben die heimischen Automobilimporteure wieder vierhundert Familienkutschen, Concept Cars, Neu- und Show-Fahrzeuge auf 25.000 Quadratmetern zusammen, um Marken und Modelle im besten Licht zu präsentieren.

Sollten Sie vor Ort weinende Hummer- oder Maybach-Nostalgiker antreffen, sprechen Sie Ihnen Trost zu.

Neujahrsvorsatz

1. Januar 2012

MASCHINENRAUM. Die Kolumne in der „Presse am Sonntag” (141) Die Katalysator-Wirkung von “Twitter” & Co. wird anno 2012 nicht geringer werden. Im Gegenteil.

Neues Jahr, neues Glück. Die alten Medien haben ja vor dem Silvesterabend einmal mehr gezeigt, dass sie mit der Geschwindigkeit des Nachrichten-Fliessbands nicht mehr richtig mithalten können. Egal, ob die „Toten des Jahres 2011“ geehrt wurden – bei manchen fehlten dann die Leider-zu-spät-Kommer Vaclav Havel, Jopie Heesters oder Leopold Hawelka –, oder man, wie im ORF, Stellenanzeigen nicht frühzeitig genug aufsetzte, um diverse Büroleiter-Jobs zumindest formal gesetzeskonform auszuschreiben. E-Mail, Twitter, Google+, Facebook & Co. geben heute den Takt vor (und bisweilen auch den Inhalt), da sehen selbst offiziöse Pressesprecher, Nachrichtenagenturen und APA OTS-Eilmeldungen oft ganz schön alt dagegen aus. Feiertage und Dienstschluss waren gestern, sie sind im World Wide Web unbekannt.

Und auch die frappante, aber leider nur vorgetäuschte Erfindung der Zeitmaschine – Posten & Positionen sind ja in Österreich meist schon festgeschrieben, bevor sie überhaupt existieren – hilft dagegen herzlich wenig. Eventuell noch weniger als das grosse „Österreich“-Horoskop, das uns schon tief im zurückliegenden Jahr unser Schicksal bis ins Jahr 2380 (oder so) verkündete. Immerhin haben die Fellners noch nicht den Weltuntergang in ein Abo-Kombiangebot mit einer „Gratis“-Autobahnvignette gepackt. Das bunte Papier, das sie zusätzlich feilbieten, geht unter Freunden unter Umständen als Verpackungsmaterial durch. Der höhere Unsinn, den all die Astrologen, Sternendeuterinnen und professionellen Kaffeesudleser absondern (sogar in „Qualitätszeitungen“ und im ORF), darf dagegen direkt in den Mülleimer befördert werden.

Tief durchatmen! 2012 wird besser, als Sie glauben. Warum? Weil wir allmählich lernen – und ich schliesse explizit die Politik mit ein, obwohl deren Lernkurve erstaunlich flach verläuft –, die Technik von heute als Kulturtechnik zu verstehen. Und auch so zu nutzen. Sprich: uns von den naiven Hoffnungen und Erwartungen z.B. an Social Media zu lösen, sie aber immer selbstverständlicher, überlegter und effizienter zu verwenden. Alltäglich. Allerorten. Die (auch positive) Hysterie des Neuen & Ungewohnten fällt zunehmend ab. Der Nutzwert nimmt zu.

Wen interessiert es, ob Faymann höchstpersönlich twittert – oder doch nur ein Propaganda-Bot? Wer glaubt noch ernsthaft an die Unschuld von Marc Zuckerberg, Larry Page, Laura Rudas & Co.? (Big Shoutout, nebstbei, an die wackeren Facebook-Hinterfrager rund um den Wiener Studenten Max Schrems!) Werden die Occupy-Bewegung, Wikileaks, Anonymous et al 2012 weiterhin Relevanz besitzen – oder müssen wir uns einfach nur neue Namen ausdenken für steinalte Mutbürger-Utopien? Und können wir uns – vernetzt wie nie zuvor – ab sofort um die wesentlichen Probleme dieses Planeten kümmern? Bitte. Danke.

Das wäre ein echter Neujahrsvorsatz: für sich persönlich zu entscheiden, ob man lieber weiter missmutig alte Zöpfe flechten mag. Oder die Fenster sperrangelweit aufmacht und frische, kalte, erquickend sauerstoffreiche Luft hereinlässt.

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