Anlässlich der Debatte um heimische Klänge auf Ö3: wie wichtig ist anno 2016 Radio-Airplay für die lokale Musikszene? Eine Nachforschung.

Die aktuelle Erfolgswelle österreichischer Pop-Acts – von Wanda und Bilderbuch über Seiler & Speer und Conchita Wurst bis zu Parov Stelar – ist nicht Ö3 zu verdanken. Punkt.
Denn: der mit Abstand wichtigste Radiosender des Landes, einstmals Garant für breite Publikumswirksamkeit, hat sich über Jahre hinweg schrittweise von einem seiner öffentlich-rechtlichen Kernaufträge zurückgezogen: der Widerspiegelung des populären, zeitgenössischen, kommerziellen Musikschaffens inner- und ausserhalb der rot-weiß-roten „Musiknation“ (für den Rest sind Ö1, FM4 und Ö-Regional zuständig). Erst eine Initiative der SP-Kultursprecherin Elisabeth Hakel veranlasste im Vorjahr die ORF-Geschäftsführung, den Kurs der „Cashcow“ Ö3 wieder ansatzweise zu korrigieren – seither gilt eine freiwillige Selbstverpflichtung, die dem Sender eine Austro-Quote von mindestens 15 Prozent auferlegt. Im weltweiten Vergleich befindet man sich damit im untersten Drittel nationalen Airplay-Anteils.
Ö3 erfüllt diese Vorgabe mit Ach und Krach: die Titelrotation ist erstaunlich eng (von 200 im August 2015 gespielten Songs erfüllten schon 11 mehr als die Hälfte der Quote), die Entdeckungsfreude der Musikredaktion ungebrochen schaumgebremst, ein beträchtlicher Anteil der Kompositionen „made in Austria“ wird in die Nacht verfrachtet. Eine wesentliche Verbesserung der vielfach beklagten Situation tönt anders. Dennoch ist ein Paradigmenwandel eingetreten. Die heimische Szene hat zu einem neuen Selbstbewusstsein gefunden, das sich ökonomisch, kulturpolitisch und medial bemerkbar macht – der vormals gern gebrauchte Fingerzeig auf die „Austropop-Raunzer von gestern“ gilt nicht mehr. Zumal Rainhard Fendrich, Peter Cornelius, Papermoon & Co. mit ihren gut abgehangenen Evergreens einen bequemen Alterswohnsitz in den Regionalsendern gefunden haben.
Eitel Wonne also allseits? Nein. Denn einerseits beklagt Ö3-Chef Georg Spatt signifikante Reichweitenverluste (österreichweit von 36,4 auf 34,9 Prozent im aktuellen Radiotest) und schreibt sie ungeniert der ungeliebten Austro-Quote zu. Andererseits erntet er damit Empörung seitens jener Künstlerinnen, Künstler, Medien- und Musikexperten, die das als durchschaubaren Schachzug in einer nach strikt marktorientierten (und eventuell tendenziell überholten) Regeln geführten Formatradio-Konkurrenzschlacht werten. Sogar die raketengleich zu Popularität gelangte, von Ö3, FM4 und Radio Wien gleichermassen hofierte Wiener Band Wanda gab sich nach Spatts Wortmeldung spöttisch: „Blödsinn, wir retten das Radio.“
Nun: es ist hoch an der Zeit, diesen verunglückten und verkrampften Antagonismus aufzubrechen. Rundfunk und Popkultur verhalten sich seit jeher wie kommunizierende Röhren. Die US-dominierte Tonträger- und Radioindustrie haben gemeinsame Wurzeln, ihre Programme und Produkte nähren sich unmittelbar von der Kreativität der Kulturschaffenden, europäische Radiostationen (zumal die öffentlich-rechtlichen) haben sich – ob mit oder ohne Quote – regionaler Diversität und selbstverständlicher kultureller Repräsentanz verschrieben. Und hierzulande? Die Hochblüte der heimischen Dialektwelle in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wäre ohne Durchlauferhitzer Ö3 so nicht möglich gewesen.
Ist aber Airplay – sprich: Radio-Präsenz – überhaupt noch der essentielle Faktor im Pop-Geschäft des 21. Jahrhunderts? Immerhin hat sich das Rad technologisch deutlich weitergedreht: Streaming- und Downloadplattformen, Internet-Stationen mit engster Genre-Formatierung, Social Media und personalisierte Playlists sind heute weit verbreitet. In der jugendlichen Zielgruppe untergraben sie zunehmend die Dominanz des traditionellen Tagesbegleiters und Nebenbei-Mediums. Das Selbstverständnis selbstbewusster Radiomacher früherer Jahre – „Wir machen Hits!“ – wurde längst zugunsten der pragmatisch-defensiven Position „Wir machen keine Hits, wir spielen sie!“ aufgegeben. Bei Ö3 wurde ein zynisches „Wir haben keine Hits (aus Österreich), aber spielen sie trotzdem zu Tode“ draus.
Seiler & Speer, aktuell die verkaufsträchtigste Band des Landes, konnte auf Millionen YouTube-Klicks verweisen, bevor sie in die langwierigen Überlegungen hiesiger Musikredakteure aufgenommen wurden. Seit jenem Zeitpunkt im Herbst des vergangenen Jahres rotiert das Duo auf Ö3 in einer Häufigkeit, die selbst deklarierte Fans irritiert. Und jene, die auf den Wiener Dialekt-Schmäh – der lange Jahre als absolutes „No Go“ für landesweiten Radioerfolg galt – weniger abfahren, mittlerweile regelrecht abstösst. Ein kontraproduktives Ergebnis, gleichwohl negativ für das Medium und die Botschaft.
Generell trägt die sklavisch vorgegebene Wiederholung der ewig gleichen Musikmixtur im ewig gleichen Stundentakt, wenn man dem Substrat unzähliger Hörermeinungen, Postings und Umfragen Gehör schenkt, mindestens so stark zum langsamen Abstieg des Platzhirschen bei wie die hinausgezögerte Entscheidung, ob man sich eher einer älteren oder jüngeren Zielgruppe zuwenden will. Im Spagat zwischen „KroneHit“-Trivialpop und Siebziger-Jahre-Rockklassikern zerreisst es merkbar die Identität von Ö3. Und auch die Managements von Helene Fischer, Andreas Gabalier, Sarah Connor & Co. entwickeln Begehrlichkeiten, neue Verbreitungswege zu erschliessen – viele, vorrangig deutsche Pop- und HipHop-Interpreten streifen mittlerweile nicht ungern (oder jedenfalls nicht unabsichtlich) am Schlager-Terrain an. Bei dieser Zielgruppe steht das Radio ja nachwievor hoch im Kurs.
In diesem Kontext melden sich gern auch wortgewaltige Apostel des Wahren, Guten, Schönen zu Wort, die postulieren, nachhaltige Publikums- und Kritikerresonanz wären auch ohne Mainstream-Radio erzielbar. Und Ö3-Airplay sowieso uncool, imageschädigend, entbehrlich. Das Netz also als ultima ratio, als zeitgemässe Alternative und übermächtiger Öffentlichkeits-Hebel? Der Underground als natürliches Biotop der Off-Szene? Und Kunst strikt getrennt von kommerziellem Erfolg? So betrachtet könnten sich die erbittert ringenden Gegner Musikindustrie (die ja in Österreich vorrangig als Import-Filiale der Majors existiert), Indie-Szene und Formatradio entspannt voneinander lösen. Dass sie es nicht tun, sollte ein Beleg dafür sein, dass der Faktor Airplay nachwievor ein essentieller ist.
Der Wesensunterschied des linearen, non-partizipativen Mediums Rundfunk ist im direkten Vergleich zu On Demand-Plattformen wie YouTube, Spotify, Apple Music oder Deezer augen- und ohrenfällig: bei letzteren köchelt, wenn sich der Nutzer nicht auf maschinelle „Discover“-Empfehlungen oder spezielle Playlists einlässt, immer dieselbe Suppe am Herd. Bei Radioprogrammen, die Musik nicht nur als notwendige Fugenmasse zwischen Werbung, Nachrichten, Verkehrsfunk und Comedy-Elementen einsetzen, kommt es auch für Nebenbei-Hörer immer wieder zu positiven Überraschungen durch Konfrontation mit neuen, unbekannten, unvermutet gefälligen Musikstücken. Radio wirkt – gerade bei einem kulturell nur durchschnittlich interessierten Breitenpublikum, das aber für unmittelbare Emotionalisierung offen ist (was es ja durch Druck auf die „On“-Taste rituell signalisiert). Für Künstler und ihre professionelle Infrastruktur ist die Ummünzung und Fortschreibung des banalen, aber wirkungsmächtigen Faktors Bekanntheit bei Live-Engagements, Auftrittsgagen und Folgeaufträgen von (über)lebensnotwendiger Wichtigkeit.
Das österreichische Musik-Informationszentrum MICA hat im Jahr 2014 eine ausführliche Untersuchung zum Thema Airplay unternommen. Kurzgefasst liest sie sich so: der unmittelbare finanzielle Ertrag aus Radioeinsätzen via AKM und AustroMechana ist überschaubar, trägt aber in einer funktionierenden Verwertungskette zu einer soliden Finanzierungsbasis für Autoren, Interpreten, Labels und Verlage bei. In punkto Öffentlichkeitswirkung ist Airplay aber kaum substituierbar. „Um kommerziell wirklich Erfolg zu haben“, resümiert MICA-Autor Markus Deisenberger (der dieser Tage auch eine nüchterne, lesenswerte Analyse der Radio-Debatte vorlegte), „führt in Österreich kein Weg an Ö3 vorbei.“
Eines der wesentlichen Probleme sei der Flaschenhals, den der Sender durch sein restriktives Formatradio-Selbstverständnis bilde: FM4 und Ö1 schlügen sich wacker, was die Aufmerksamkeit für neue Töne aus Österreich betrifft, erreichten aber nur einstellige Prozentanteile des potentiellen Publikums. Ö3 könne dagegen auf täglich rund 2,8 Millionen Hörer/innen bauen – die durchaus Interesse an neuen Namen und Gesichtern hätten. Jüngstes Beispiel: die seitens des ORF crossmedial konsequent forcierte Songcontest-Interpretin Zoe.
„Social Media ist beim Entdecken neuer Künstler am wichtigsten“, meint Sony Music-Spitzenmanager Philip Ginthör im aktuellen „Wired Magazin“. „An zweiter Stelle folgt das Radio. Die Bedeutung dieses Mediums hat wieder zugenommen, auch deshalb, weil wir eine enge Verzahnung erleben mit dem, was online passiert. Wenn Menschen Musik übers Radio kennenlernen, werden Songs gezielt gesucht – über Shazam, über Streaming-Dienste. Aber auch umgekehrt: Radioredakteure informieren sich sehr genau, was im Netz passiert, greifen Trends auf und bringen sie zu den analogen Medien zurück.“ Es gilt die selbstverständliche Regel: jeder Redakteur im Ausland, egal ob Radio, TV, Print oder Online, wird zuvorderst recherchieren, wie sich ein Song oder ein Album im Heimatmarkt schlägt.
„Ein gescheites Radio hilft dabei mit, Künstler aufzubauen und wartet nicht, bis sie im Ausland Erfolg haben“, ergänzt der WKÖ-Experte Werner Müller. „Das ist Wertschöpfungsexport österreichischer Kreativität und auch ökonomisch unklug.“ Ähnlich argumentiert AKM-Vizepräsident Peter Vieweger: „Man muss nur den Blick nach Deutschland werfen. Dort funktioniert es mit dem Einsatz lokaler Produktionen in lokalen und überregionalen Radios mittlerweile hervorragend. Der Erfolg ist evident. Und die Investitionsbasis für weitere Steigerungen, sowohl künstlerisch als auch kommerziell, gegeben. Es ist unverständlich, dass Österreich nicht rasch gleichzieht.“
Persönliches Fazit: es ist, wie so oft, weniger eine Frage des Könnens als eine Frage des Wollens. An Talent, Kreativität und Knowhow mangelt es jedenfalls nicht hierzulande. Es müssen ja auch nicht immer deutschsprachige oder gar dialektgefärbte Songs sein … Man höre in die neuesten Produktionen von Elly V. (ja, das war die herausstechende Zweite in der ORF-Songcontest-Vorauswahl), Robb, Avec, Der Nino aus Wien, Farewell Dear Ghost, Fijuka, Viech, Polkov, Gin Ga oder Leyya hinein, um nur ein paar zu nennen… Äther frei!
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