Archive for Oktober, 2017

Die Schaltzentrale

2. Oktober 2017

Ö3 ca. 1992

Das ORF-Funkhaus in der Argentinierstraße 30a in Wien-Wieden ist weit mehr als ein nüchterner Nutzbau für die Sender Ö1, Radio Wien, FM4 und – bis 1995 – Ö3. In einer Topografie der „magischen Orte“ der lokalen Pop-Historie spielt es eine entscheidende Rolle. Mindestens zweimal: einmal als Geburtsstätte des Austropop, zwanzig Jahre später als Wegbereiter und -Begleiter der jungen HipHop-Szene.

Wenn wir Pop – zuvorderst Populärmusik – als kulturell höchst fruchtbares Biotop zwischen Kunst und Kommerz wahrnehmen, wird man mehrheitlich den ihm innewohnenden Drang nach Aufmerksamkeit, nach Reichweite, in die Charts als wesentlichen, ja systemimmanenten Faktor werten. Pop bedarf dieser Definition nach zwingend medialer Wahrnehmung – zuvorderst jener der Gattung Radio. Denn auch in Zeiten des Internets, das sich als Metamedium par excellence längst alle Verbreitungswege einverleibt hat (wenige Ausnahmen bestätigen die Regel), lebt Pop von Spielflächen, die zunächst kommentarlos die eigentliche Ware in die Auslage stellen. Und erst im Anschluss, wenn überhaupt, die Fakten dazu und die Reflexion darüber nachreichen. Powerplay, Pop-Appeal und Publikumsresonanz bedingen einander. Der Hörfunk als klassisches Push-Medium kann – auch wenn dies in Zeiten des Formatradios fast schon ein Sakrileg ist – seine Hörer/innen überraschen, belehren, verführen. Und mit gänzlich Neuem konfrontieren. Der wesentliche Brennstoff ist Musik, das Medium – nach Marshall McLuhan – die Botschaft.

Teilt man die These, dass Pop nicht ohne spezifische Durchlauferhitzer auskommt, liegt die Suche nach solchen in der österreichischen Nachkriegs-Geschichte nahe. Hier war (und ist) es eine Einrichtung, die zweifellos wesentlichen Anteil an der Entstehung und Verbreitung heimischer Populärmusik hat(te): der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Waren es nach 1945 zunächst die Sender der britischen, französischen und amerikanischen Besatzungszonen (“Radio Rot-Weiß-Rot”, “Blue Danube Network” u.a.), die etwa Jazz und Swing im größeren Stil nach Österreich importieren, brachte erst die ORF-Rundfunkreform Mitte der sechziger Jahre und anno 1967 die Einführung der “Strukturprogramme” Ö1, Ö3 und ÖR (Österreich Regional) den entscheidenden Durchbruch in Hinsicht auf die Auffächerung des Publikumsgeschmacks, die Widerspiegelung internationaler Entwicklungen und die Heranbildung einer eigenständigen lokalen Szene.

Das ORF-Funkhaus in der Argentinierstrasse 30a in Wien-Wieden wurde rasch der wesentliche Knotenpunkt im noch recht durchlässigen Geflecht heimischer Pop-Adoranten und -Akteure. Insbesondere das nach dem Vorbild von Radio Luxemburg neu entwickelte Programm Ö3 schärfte die progressive Kontur – es erhielt von Gerd Bacher und dem ersten Sender-Chef Ernst Grissemann die dezidierte Aufgabenstellung, “jugendliche Inhalte” und internationale Charts-Musik, aber auch Folk, Jazz, Country und Chansons zu transportieren (wenngleich man zu Beginn nicht darauf verzichten wollte, das Publikum täglich eine Stunde lang auch mit klassischer Musik zu konfrontieren). Dazu kam ab 1971 die Vollausstattung des Unternehmens u.a. mit einem Unterhaltungsorchester, der ORF-Big Band, die mit Spitzenkräften wie Erich Kleinschuster, Hans Salomon, Fritz Pauer, Harry Pepl und Erich Bachträgl einen über die Grenzen des Landes hinausgehenden Ruf hatte.

„Wir wollen aus dieser leichten Unterhaltung heraus Spitzen bauen, während denen wir den Hörern Geist, Kultur, alles, was für den Aufbau einer Persönlichkeit nötig ist, injizieren“, hört man Ernst Grissemann in einem TV-Werbefilm jener Tage sagen. Nachsatz: „Und zwar hintertückisch injizieren.“

Insofern war es nur folgerichtig, dass schon in den Anfangstagen von Ö3 redaktionsintern die Möglichkeiten der kulturellen Infiltration, der Provokation und der Aktivierung bislang weithin verborgen gebliebenen künstlerischen Potentials diskutiert wurden. Die Überlegungen und daraus resultierenden Folgerungen gingen in unterschiedliche Richtungen. Am auffälligsten agierte zunächst der junge Ö3-„Musicbox“-Moderator Andreas (später: André) Heller, der nach Gutdünken Orange und Zitronen verlieh für gute und schlechte Platten, im Hotel Sacher kecke Fragen an John Lennon und Yoko Ono stellte und generell den progressiven Maulhelden gab. Allein: seine erste Plattenveröffentlichung 1970, die zum Erstaunen der Anhängerschar der fleischgewordenen Schlagerwelt-Antithese erst recht eine neobarocke Schlagerwelt eröffnete, katapultierte ihn rasch in andere Sphären.

Als weit zündender und nachhaltiger in der Wirkung erwies sich der Ansatz der Literaturredaktion rund um Alfred Treiber, Wiener Proto-Pop-Formationen wie die Worried Men Skiffle Group mit der radikalen Lyrik der „Wiener Gruppe“ rund um H.C.Artmann, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Oswald Wiener zu konfrontieren. Deutschsprachige, in breitestem Wiener Dialekt vorgetragene Texte wie „Da Mensch is a Sau“, „Trottel kannst mi hass’n“ oder „I bin a Wunda“, begleitet von aufreizend mitsingbarem Waschbrett-Geschrammel, entfalteten sich im Massenprogramm Ö3 zu phänomenaler (und eben nur in dieser Kombination denkbaren) Wirkung. Die Veröffentlichung der Single „Glaubst I bin bled“ im Herbst 1970 markiert einen möglichen Beginn des sogenannten Austropop.

Ein anderer, konsensual determinierter Beginn der „Dialektwelle“ ist die längst zum Evergreen des Austropop gewordene „Glock’n, die 24 Stunden läut’“. Der Schlager im beschwingten Soundkorsett der ORF-Big Band (Komposition: Hans Salomon) wurde vom Kabarettisten Gerhard Bronner – der schon für die frühen Rock’n’Roll-Parodien von Helmut Qualtinger verantwortlich zeichnete – getextet und von Marianne Mendt interpretiert. Als TV-Startrampe wurde der Talentewettbewerb „Showchance“ gewählt, der Song diente aber auch als Kennung von Bronners satirischer Fernsehsendung „Die große Glocke“. Die Querverbindungen innerhalb des überschaubaren Wirkungskreises sind evident: für das Album „Wia a Glock’n“ arbeitete Mendt mit Bronner und Salomon, aber auch André Heller; beim Nachfolgewerk „Gute Lieder sind wie Pistolen“ stiessen Robert Opratko, Richard Oesterreicher und auch Georg Danzer dazu.

Letzterer begann als zunächst erfolgloser („Vera“) Liederschreiber Ende der sechziger Jahre aushilfsweise in der Ö3-Musikredaktion zu arbeiten – und fiel der Redakteurin Evamaria Kaiser auf. Diese hatte schon in den 1960er-Jahren mit der Sendung „Gut aufgelegt“ Bekanntheit erlangt und tendierte zur Förderung junger Nachwuchskünstler. Mit der „Showchance“ und der von der Milchwirtschaft finanziell unterfütterten und von heimischen Major-Musikvertretern prompt genutzten Plattform „Talente 70“ vermochte die Moderatorin mit der rauchigen Stimme entsprechende mediale Hebel zu ziehen. Es galt, „Österreichspezifisches aufzuspüren, zu verstärken und zu motivieren“ („Österreichisches Musiklexikon“). Davon profitierten nicht nur Lied- und Textautoren wie Georg Danzer, der als Auftragsschreiber wie am Fließband kreativ war (u.a. für André Heller, Erika Pluhar, Wilfried, The Madcaps), sondern auch die weniger wortgewaltige (und heute weitgehend vergessene) Kundschaft, die bis etwa Mitte der siebziger Jahre in Ö3 unter den matriarchalen Fittichen von Evamaria Kaiser ein Plätzchen und, frei nach Andy Warhol, fünfzehn Minuten Berühmtheit fand.

Ein weiterer früher Knotenpunkt im historischen Komplex Austropop/Ö3 ist die „Musicbox“ – ein Magazin, das als „Kernstück der Abteilung Jugend, Gesellschaft, Famile“ (so ihr Leiter Hubert Gaisbauer) galt und von Montag bis Freitag jeweils um 15.05 Uhr eine Auseinandersetzung mit Popkultur abseits des Mainstreams ermöglichte. Die Sendung – verbunden mit prägenden Namen wie Wolfgang Kos, Nora Aschacher, Nikolaus Michels, Günther Brödl oder Michael Schrott – legte insbesonders mit der nachdrücklichen Präsentation des Erstlingswerks von Wolfgang Ambros, dem legendären „Da Hofa“, anno 1971 einen weiteren Grundstein für den (erst später so benannte) Austropop. Auch die Querverbindungen zur Hemisphäre der kritischen Liedermacher rund um Sigi Maron, Thomas Declaude, Erich Demmer u.a. seien erwähnt.

Die Interaktion zwischen Radiomachern und Szene, ihre wechselseitige Befruchtung und zeitweise beachtliche personelle Verflechtung – das ORF-Funkhaus in der Argentinerstrasse wurde ja nicht zuletzt auch intensiv als Studio für Musikaufnahmen genutzt – ist nicht nur in der Anfangszeit der späten sechziger und frühen siebziger Jahre evident. Als zweiter Höhepunkt darf die Initialisierung von HipHop in Österreich gewertet werden, an der die Ö3-„Musicbox“ ebenfalls entscheidend beteiligt war – Anfang der 1990er-Jahre, in Gestalt der Sendungsrubrik (und späteren, bis heute auf FM4 existierenden Sendefläche) „Tribe Vibes Dope Beats“. Angeregt von der Regisseurin und Publizistin Katharina Weingartner, gestalterisch geprägt von „Musicbox“-Redakteuer Werner Geier und musikalisch inszeniert von Stefan Biedermann alias DJ DSL, hatte sich „Tribe Vibes Dope Beats“ ganz der Abkehr vom bis dahin dominanten White Boys-Gitarrenrock verschrieben. Verbunden mit der Suche nach lokalen, regionalen, nationalen Keimzellen und Pendants zu den internationalen Vorbildern – inklusive der Inszenierung eines Contests mit Finale im Wiener Volksgarten und Falco als prominentem Juror.

„Österreich ist in Bezug auf HipHop noch ein Entwicklungsland“, konstatierte Geier bei der Präsentation der Compilation „Austrian Flavors Volume 1“ anno 1992 – und lief, quasi als Spielertrainer, mit aufs Feld. Hier versammelte man (demonstrativ auf Vinyl „recorded at ORF Funkhaus, Vienna. Engineer: Charly Petermichl“) erstmals Namen, die später noch öfter fallen sollten im Genre-Kontext – darunter Total Chaos, DJ Megablast, DJ Cut Exx, Rodney Hunter und Peter Kruder. Gerade mal vier Jahre zuvor, anno 1988, hatten Kruder, Hunter, DJ DSL und Martin Forster (alias „Sugar B“) mit ihrer Spaß-Truppe Dr. Moreaus Creatures – später verkürzt auf The Moreaus – Österreichs erste halbwegs wahrnehmbare HipHop-Crew an den Start gebracht. Forster, ab 1991 auch mit dem heutigen FM4-Musikchef Marcus Wagner („Makossa“) zugange in der stilbildenden Ö3-DJ-Mix-Sendung „Silly Solid Swound System“, sollte dann wieder als Master of Ceremonies im Kontext der Live-Shows von Kruder & Dorfmeister auftauchen. Vice versa erwies sich das lokale HipHop-Reservat, das – im Gegensatz etwa zu Deutschland – in den Folgejahren kaum je Chartserfolge erreichte, als Radio-Nachwuchspool: so werken heute z.B. Christoph Weiss von Schönheitsfehler oder Clemens Fantur von Total Chaos in der Argentinierstrasse.

Die Rolle von Ö3 – als Begleitmedium, Echoraum, partieller Treibsatz und Katalysator von Szene-Entwicklungen – hat längst die „Musicbox“-Nachgeburt FM4 übernommen. Spätestens Mitte der 1990er-Jahre war der einst mächtigste (und lange Zeit auch willigste, ja nachgerade drängendste) Medienpartner der heimischen Musikindustrie zu einem latenten Feindbild geraten, der Umzug vom altgedienten Funkhaus in ein neues Gebäude auf der Heiligenstädter Lände markiert auch örtlich die nun vorherrschende Doktrin eines strikt kommerziell durchfomatierten Pop-Senders. Den im Rundfunkgesetz formulierten „Kulturauftrag“ deutet man dort als Imperativ längst vergangener Zeiten. Dass es ab der Jahrtausendwende wieder zu einem Erstarken der Szene kam und Ö3- und FM4-Moderatoren ungebrochen in die aktuelle Pop-Landschaft diffundieren, steht dazu nur aus der Ferne betrachtet in Widerspruch.

Der Beitrag ist ein – leicht erweitertes – Kapitel des Katalogs zur aktuellen Ausstellung „Ganz Wien. Eine Pop-Tour“ (14.09.2017 – 25.03.2018) im Wien Museum.

Das Foto zeigt die Ö3-„Nachtexpress“-Crew 1991. Von links nach rechts: Robert Riede, Martin Blumenau, Monika Eigensperger, Eberhard Forcher, Angelika Lang, Karl Takats, Walter Gröbchen. Nicht im Bild: Werner Geier, Frank Hoffmann, John Peel. 

 

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