Das freie Internet

22. März 2019

Sind wir nicht alle – bis auf Herbert Kickl eventuell, Kim Jong Un und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas – für ein weltweites, verbindendes, offenes Netz ohne Restriktionen, Widrigkeiten oder gar Zensur?

Internett

Keine Gegenstimme. Unser Wunschdenken in allen Ehren. Allein: ich beginne der Vorstellung vom „freien Internet“ zu misstrauen. Es startete wie jede von Aufklärungswillen, Fortschrittsgeist und Idealismus getriebene Idee, Institution und Ideologie: hoffnungsvoll. Die Realität hat alle rasch eingeholt. Gilt auch für die schöne neue Digitalwelt. Hat das von Alphabet/Google, Facebook, YouTube, Twitter, Instagram, Amazon und Apple (to name just the most obvious players) parzellierte, eingezäunte, datengeschürfte und portioniert vermarktete Web noch viel mit der Vision von einst zu tun?

Jetzt ist es wieder in (fast) aller Munde: das freie Internet. Es soll abgeschafft werden, zerstört, getötet. Angeblich. Quasi als Kollateralschaden. Weil ein paar Politiker/innen auf EU-Ebene es wagen, gegen die offensichtlichsten Konstruktionsfehler des New Business im Netz vorzugehen – die Ertrags-Abzocke kreativer Drittleistungen, die tolldreiste (und oft erpresserische) Ausnutzung mono- oder oligopolistischer Machtstrukturen (erst kürzlich ist Google wieder zu einer EU-Strafe von 1,49 Milliarden Euro wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung verurteilt worden), die willfährige oder auch „nur“ erzwungene Datenblockade oder, vice versa, -Offenlegung gegenüber Geheimdiensten und Regierungen (von China bis zu den USA), die ungenierte kapitalistische Gewinnmaximierung unter Ausnutzung jeder Gesetzeslücke, Reaktionsverzögerung und Uneinigkeit z.B. der EU-Länder. Wir alle zahlen brav faire Steuern (auch wenn wir sie oft als unfair empfinden), die globalen Riesen lachen darüber. Und über uns, die wir sie beiläufig, aber ständig und weithin gratis mit Content fett und stark machen. Und unsere Politiker/inn/en nicht dazu zwingen, dem unhaltbaren Zustand ein Ende zu machen.

Bis dato. Ich will hier nicht die Details der möglichen, eventuell demnächst kommenden EU-Novelle zu Urheber- und Leistungsschutzrecht (ja, mit den wild umstrittenen Artikeln 11 und 13) ausbreiten, originell anders bewerten als viele Expert/inn/en oder neu aufrollen. Ja, ich teile die Sorge, was „Upload-Filter“ betrifft. Aber sie existieren bereits (etwa als „Content ID“ bei YouTube). YouTube sieht sich dadurch gezwungen, Inhalte zu lizensieren (die Verträge mit AKM, GEMA usw. sind allerdings Geschäftsgeheimnis…) Und freilich könnte es noch unbequemer werden in Zukunft für uns alle (mich eingeschlossen), was die Hollodero-scheißmirnix!-Nutzung und potentielle Monetarisierung fremder Fotos, Videos, Texte, Musikstücke, Artikel, kreativer Konzepte und Ideen betrifft. Aber: zuvorderst für Google & Co. Als Begleitmusik kann man auch die Ungerechtigkeit der Welt generell, das Risiko- und Ertragsverhältnis von althergebrachten Creative Business-Infrastrukturen (z.B. Verlage, Record Companies, Verwertungsgesellschaften) zu Urheber/inne/n und das Copyright als (behaupteterweise) überholtes Recht ins Spiel bringen. Aber man sollte dieses Spiel nicht zu offensichtlich mit gezinkten Karten spielen.

Mein Instinkt sagt: die Datenkraken und Profitmaschinen der Gegenwart und, absehbar, auch der Zukunft haben mit einem „freien Internet“ wenig bis nichts am Hut. Sie stehen, ähnlich wie schon bei der #DSGVO, primär im Visier einer eigenständigen und (im besten Wortsinn) eigenwilligen europäischen Politik (und es gibt wohl wirklich wenige Mandatare egal welcher Fraktion, die das gesellschaftlich disruptive Verhalten von Google & Co. einfach abnicken wollen und werden). Apropos: ich mag viele (oft auf Falschinterpretation beruhende) Auswirkungen der DSGVO auch nicht. Aber. Man kann die mühsam erdachten, lange und intensiv erörterten und verhandelten und in Details immer noch vagen, unbeholfenen oder absehbar zu bürokratischen Maßnahmen kritisch betrachten – aber es ist eine Regung von politischem Willen, wo man der EU lange Regungslosigkeit vorgeworfen hat.

Eine gute Entwicklung? Möglicherweise. Möglicherweise auch nicht. Es gibt Gegenstimmen. Man kann sie, insbesondere in den sozialen Medien, kaum übersehen und überhören. Tausende Aktivist/inn/en, die z.B. morgen hier – www.piratenpartei.at/save-your-internet-oesterreich-und-wi…/ – auf die Straße gehen, protestieren für oder gegen etwas, das ihnen – und das wird jetzt der Mehrheit der kritischen Geister nicht gefallen – doch ziemlich einseitig, schablonenhaft dramatisch und seltsam konform vorgekaut wird (der kurze Text der Piratenpartei Österreichs ist dafür leider symptomatisch). Gehen sie geschicktem Lobbying, wirtschaftspolitischer Camouflage und massiven Business-Interessen auf den Leim? Kaum. Es ist ihre eigene Lebenswelt und Sicht der Dinge.

Aber würden sie wirklich für ein tatsächlich freies Internet eintreten, müssten die Fronten neu und anders abgesteckt werden. Nein? Vielleicht wird man sich in zehn, zwanzig Jahren daran erinnern, beim Marsch wider die Institutionen an der falschen Straßenecke abgebogen zu sein? Ich hoffe nicht.

P.S.: Feedback jeder Art ausdrücklich erwünscht.

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