Handshake mit dem Großen Bruder?

7. April 2020

MASCHINENRAUM / WIENER ZEITUNG. An einer potentiell hilfreichen App entzündet sich das Misstrauen des gläsernen Staatsbürgers. Ausgerechnet!

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Extra nochmal nachgezählt: ich habe aktuell 106 Apps auf meinem Smartphone installiert. Seit vorgestern eine mehr, aber dazu später. Von diesen Apps – Miniprogrammen, die eine spezielle Funktion erfüllen – greift mehr als die Hälfte ungeniert auf mein Adressbuch zu oder meine Facebook-Freundesliste, schaltet nach Bedarf Kamera und Mikrofon ein (und der Bedarf erscheint erstaunlich oft gegeben), zeichnet meinen Standort auf, die Bewegungsdaten und den Browser-Verlauf. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass sie sich für mein Gewicht, den Pulsschlag und die Blutdruckwerte interessieren.

Freilich kann man das Gros der Greifarme dieser Datenkraken ausschalten, aber die Werkseinstellung ist zunächst auf Neugier programmiert. Und nicht wenige Nutzer vergessen, den Auslieferungszustand nicht wörtlich zu nehmen und die entsprechenden Um- und Einstellungen vorzunehmen. Aus Bequemlichkeit, aus Schlendrian, aus Unwissen. Oder auch (oft gehört!), weil man „eh nichts zu verbergen hat“. Für Konzerne, deren Geschäftsmodell sich in Big Data-Schürfrechten erschöpft, ein gefundenes Fressen. Dass generell kaum eine Applikation oder Social Media-Bassena unseres digitalen Lebensstils den Implikationen der Datenschutzgrundverordnung genügt – wiewohl wir ständig lästige, kleingedruckte Regelwerke von Broschürenstärke wegklicken –, ist eh Allgemeingut.

Umso erstaunter war ich, als nun in den letzten Tagen einer potentiell hilfreichen, ja lebensrettenden App besonderes Misstrauen und vorauseilender Hohn entgegenschlugen. Sie wurde (und wird) vom Österreichischen Roten Kreuz angeboten, allein das sollte vertrauensstiftend sein. Die App, legér „Stopp Corona“ benannt, ist dazu gedacht, den Verbreitungswegen des Virus auf die Schliche zu kommen. Und User zu warnen, wenn sie mit Menschen in Berührung waren, die später positiv getestet werden. Relativ unkompliziert („single purpose“), elegant und unbestechlich. Gut, dass Nationalratspräsident Sobotka – ein Oberlehrer vor dem Herrn – vorschnell hinausposaunte, er spräche sich für eine verpflichtende Installation auf dem Handy jedes Staatsbürgers aus, war kontraproduktiv. Allein die Idee liess unzählige Bedenkenträger, Komplettverweigerer und Querulanten hinter den Büschen hervorspringen. Dass Fachleute zwar forderten, den Quellcode (die DNA des Programms) offenzulegen und einige Details nachzuschärfen, sonst aber wenig Übles – und schon gar nichts komplett Verwerfliches – diagnostizierten, beruhigte die Gemüter kaum. Misstrauen rules OK. Einmal dämonisiert, immer dämonisiert.

Nun denn: Teert mich, federt mich, sprecht Gebete und politische Bannflüche! Ich habe es getan. Ich habe die Corona-App runtergeladen. Um sie zu testen. Sie macht eigentlich nichts anderes, als per digitalem „Handshake“ (via Bluetooth oder via Mikro per Ultraschall) auf Knopfdruck (oder bald auch automatisch) eine Art anonymisiertes Begegnungstagebuch anzulegen. Sollte ich eine Benachrichtung erhalten, weiß ich, dass ich potentiell angesteckt wurde. Mehr nicht. Es werden weder meine Spaziergänge getrackt noch mein YouPorn-Konsum entlarvt, und es gibt auch, pardon!, keine Direktverbindung mit dem Führerbunker von Sebastian Kurz.

Lästern mag man eventuell über die Finanzierung der App-Entwicklung durch einen Versicherungskonzern. Oder darüber, dass man einmal mehr einen eigenen Weg geht und nicht auf ähnliche, rückhaltlos transparente Konkurrenzprodukte im EU-Ausland setzt. Da wir freilich im Zeitalter des ritualisierten Misstrauens leben (und das, jammerschade!, nicht ganz zu unrecht), solche Apps aber einer gewissen Verbreitung bedürfen, um zu funktionieren, ist das Ding leider schon tot. Derweil Covid-19 noch quicklebendig unter uns weilt.

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