Verschenkte Unschuld

12. September 2014

MASCHINENRAUM. Die Kolumne in der „Presse am Sonntag” (278) Wie ein Marketing-Gag nach hinten los ging: rauben Apple und U2 dem Rock’n’Roll die wahren Werte? Oder nur die Warenwerte?

U2-will-be-at-Apple-Keynote

Medien degenerieren immer mehr zu Feedback-Schleifen. Wo früher noch der Wunsch auszumachen war, spannende, möglichst exklusive Geschichte zu orten, Themen zu setzen und durch Recherche zu glänzen, regiert heute das Abschreiben, Nachwassern und In-den-Chor-Miteinstimmen. Die Impulsgeber für die Resonanzkörper Print, Radio und TV heissen Facebook und Twitter.

Regen sich dort Stimmen – wozu immer auch – und ballen sich zu deutlich vernehmbaren Meinungs-Clustern zusammen, kann man sicher sein, sie am nächsten oder übernächsten Tag als Gegenstand der professionellen Berichterstattung wiederzufinden. Hickhack galore! Pingpong zum Quadrat! So lässt sich mancherlei wunderbar hochkochen. Und für das eigene Click-Counter-Business nutzen.

Dieser Durchlauferhitzer-Effekt war dieser Tage besonders schön sichtbar bei der Vorstellung der neuen, sechsten Generation des Apple iPhone. Plus einer Apple-Uhr. Plus – “one more thing” – eines spektakulären Geschenks an die Fangemeinde des Konzerns aus Cupertino, USA: das neue Album der legendären Rockband U2. Gratis. Und quasi automatisch frei Haus geliefert: ob man wollte oder nicht, hatte man “Songs of Innocence” über Nacht als “gekauft” markiert in seiner iTunes-Mediathek stehen.

Aber gar so unschuldig sind die neuen Lieder von Bono Vox & Co. nicht. Denn nach der ersten Welle der Überraschung und Freude über den Marketing-Schachzug – wahlweise von Apple-CEO Tim Cook auch als „größter Album-Release aller Zeiten“ apostrophiert – brach ein Geheul der Kritik, Enttäuschung und Häme sondergleichen los: die Altherren-Partie, bereits einmal mit Apple zugange, hätte ihr – noch dazu reichlich schwaches – neues Opus einfach an einen Computergiganten verscherbelt.

“Das”, so die MP3-Plattform Tonspion, “nannte man früher “Ausverkauf” oder “Corporate Rock” und zog gesellschaftliche Ächtung nach sich.” Ein Verrat am Geist des Rock’n’Roll? Die Neuerfindung der Musik-Distribution im Zeitalter der digitalen Entwertung? Und kann man überhaupt den „Was nix kost‘ is‘ nix wert“-Psychomechanismus ausschalten? Der “Musikexpress” winkte ab: “Geschenkt ist noch zu teuer. Kann man ungehört löschen.”

Ziemlich deutlich orientierte man sich bei der journalistischen Meinungsbildung am Stimmungsbarometer Social Media. Dort fanden sich auch die zynischsten Einträge: “Eine digitale Uhr und ein U2-Album: das ist wie Weihnachten 1984.” Gleichzeitig erhoben sich Stimmen, die sich von der geballten Ladung Hohn und Spott genervt zeigten – und damit den logischen Pendel-Gegenschlag markierten.

Egal, ob U2, Apple Watch, Ice Bucket Challenge oder Top 10-Bücherlisten: spätestens übermorgen wird dann die Aufregung und die Aufregung über die Aufregung und erst recht die Aufregung über die Aufregung über die Aufregung auch wieder aus den neuen und alten Medien verschwunden sein.

2 Antworten to “Verschenkte Unschuld”


  1. Der letzte Satz ist der wichtigste.


  2. […] war ich dann doch etwas erstaunt. Auch die Häme von Christian Schachinger hat mich verwundert, Walter Gröbchens Aufregung war fast dezent dagegen. Boshaft könnte man fragen: Schreiben hier alte Männer, die anderen alten […]


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