Eine simple Frage. Die jedoch hintergründiger ist, als es sich zunächst darstellt – meint doch jede(r), sofort, zweifelsohne und allumfassend „gute“ Musik und „schlechte“ unterscheiden zu können. Ich würde mir das nicht leichtfertig herausnehmen. Letztlich aber muss es doch sein. Ein Streiflicht.
Was ist gute Musik? Seltsam, über diese Frage habe ich eigentlich nie wirklich nachgedacht. Vielleicht, weil ich mich immer auf meinen Instinkt verlassen habe. Vielleicht, weil gerade Musik nicht so sehr eine intellektuelle Übung ist, mehr ein emotionales Sich-Einlassen, Sich-Einlassen-Wollen, Sich-Einlassen-Können. Vielleicht auch, weil mir diese Frage so noch nie explizit gestellt wurde. Obwohl sie implizit meinen Alltag beherrscht. Seit Jahrzehnten.
Gestern, bei der 15-Jahr-Bestandsfeier des MICA, wurde diese Frage gestellt. Genauer: Musikschaffende aller Genres waren eingeladen, im Rahmen des Themenschwerpunkts „Sprechen über Musik – Polemiken“ ein persönliches Statement zur Fragestellung „Was macht heutzutage gute Musik aus?“ abzugeben. Und dieses mit Hörbeispielen zu untermauern. Eingeladen waren Renald Deppe, Christof Dienz, Electric Indigo, Sven Hartberger, Manuela Kerer, Doris Knecht, Fritz Ostermayer und Matthias Rüegg.
Letzterem gelang es, mir gleich mal die Mundwinkel nach unten zu ziehen. Dass ausgerechnet der langgediente Jazz-Avantgardist Rüegg, „Porgy & Bess“-Mitbegründer und Vienna Art Orchestra-Motor, die Rolling Stones, Abba, Michael Jackson und HipHop nicht zu schätzen weiß – geschenkt. Musik ist letztlich, das ist der ewige Anfangs- und Endpunkt jeglicher Diskussion, vor allem eines: Geschmackssache. Dass der Schweizer aber Handwerkliches an vorderste Stelle rückt, „Progressivität“ gar nicht schätzt und die Kunst gern im Elfenbeinturm daheim sieht („Keine Politik!“), ist schon arg konservativ. Um nicht zu sagen: reaktionär. Hätte ich nicht erwartet. Die MICA-Runde nahm es erstaunt, aber ohne Widerrede hin. Eines kann man Rüegg immerhin nicht vorwerfen: Feigheit. Aber wem er mit seinem Rundumschlag die Leviten lesen wollte, und warum, blieb unklar.
Reichlich launig, gelegentlich auch improvisiert beiläufig fielen die Statements der „Female Pressure“-Gründerin Susanne Kirchmayr alias Electric Indigo, von Christof Dienz („Die Knödel“) und Manuela Kerer, einer Psychologin und Komponistin aus Südtirol, aus. Aussagen wie „Gute Musik muss mich überraschen“ oder „Hansi Hinterseer begeistert viele Leute, er ist authentisch und hat Respekt verdient“ erzeugten ob ihrer Knallerbsen-Brisanz auch nicht gerade massiven Widerhall. Oder gar Beifall. Was beliebt, ist auch erlaubt. Eine grosse ästhetische Leitlinie, einen Konsens, was gute Musik von schlechter trennt, oder gar einen von der Volksschule bis zum Pensionistenheim gültigen Kultur-Kanon gibt es Anfangs des 21. Jahrhunderts wohl nicht mehr, Laissez-faire ist Grundhaltung, alle denkbaren Varianten – von totalem Lärm bis zu absichtsvoller Stille – sind durchgespielt. Also lassen wir auch Hinterseer gelten. Oder doch nicht?
Die Kolumnistin Doris Knecht setzt auf das Diktat des Individuums („Gute Musik muss mir gefallen“) und knallte dem Auditorium mit einem Blues/Electro/Punk-Hadern von Dead Weather („Bone House“, hier ein Video) eine vor den Latz. Beifälliges Kopfnicken. Dass die Stücke alle vor der Zeit ausgeblendet werden mussten – „erlaubt“ war ein Sample von zwei Minuten, selbst unter Kunstfreunden herrscht wohl zeitgemässe Ungeduld – war schade. Zumindest bei jenen Hörproben, die aus sich heraus die suggestive Kraft und Wirkung auch innerhalb dieser kurzen Aufwärmzeit entfalteten. Und das war, keine Überraschung, doch die Mehrzahl.
Renald Deppe (Komponist und Kurator), Fritz Ostermayer (FM4 „Im Sumpf“) und Sven Hartberger (Klangforum Wien) griffen auf persönliche Erfahrungswelten und Vorlieben zurück, bei gleichzeitigem Verlangen nach zeitloser Grösse. Geistesheroen wie Plato, Jean Dubuffet und Pierre Bourdieu dienten als Zeugen. Oder Zitat-Steinbrüche. Die Hörbeispiele der Herren, egal ob mittelalterliche Vokaldarbietung, folkloristische Film-Tonspur oder zeitgenössische E-Musik, überzeugten. Sofort. Eindringlich. Erstmals gehört, meinerseits. In der Tat: gute Musik. Sie muss mich nicht überraschen. Im Gegenteil: auch nach tausendmaligem Hören verliert sie im Idealfall nicht ihre Spannung, ihre Instant-Wirkung, ihren subjektiv überragenden Wert.
Was also ist „gute Musik“? Eventuell lässt sich die Frage als Komplimentärmenge zur Antwort auf die Gegenfrage „Was ist schlechte Musik?“ definieren. Auch da kann, muß und will ich mich wieder – fast ausschliesslich – auf meinen Instinkt verlassen. Und auf die Ohren, die wohl direkte Gehörgänge, Nervenverästelungen und Verbindungslinien zu den Gehirnganglien und zum Solar Plexus besitzen. Ist Musik nicht ergreifend (und, so pathetisch dieses Wort auch klingen mag, es trifft den Kern), lässt sie mich gleichgültig. Und Gleichgültigkeit ist ein ästhetisches Todesurteil. Insofern ist sie ein Indikator für „schlechte“ Musik. Die es in Wahrheit aber nicht gibt. Oder doch? Denn: Hansi Hinterseers volkstümliche Hervorbringungen, geschaffen als Auftragswerk von Fremdautoren, ohne jeden künstlerischen Impetus, nur als kommerzielles Surrogat, repräsentieren schlechte Musik. Ohne Zweifel. Denn diese Art von Schöpfung lässt mich nicht kalt. Sie macht mich übellaunig, apathisch, unwillig, aggressiv, negativ erstaunt. Erstaunt darüber, dass man ernsthaft Künstlichkeit mit Kunst, Fliessband-Emotionen mit Authentizität und Volksdümmlichkeit mit Empathie verwechseln kann. De gustibus disputandum est.
Wenn Kunst von Können kommt, eine beliebig verwend- und interpretierbare Argumentationshülse, muss auch der Zuhörer hören können. Ästhetische Kriterien, Erkenntnisprozesse und historische Querverbindungen gilt es in der Regel hart zu erarbeiten. Und doch siegt oft, eventuell zu oft der innere Schweinehund. Aber regiert er, flankiert von Gevatter Kommerz und Mutter Markt, wirklich mein, Dein, unser Musikuniversum? Seltsam: gerade fällt mir eine Zeile aus Leonard Cohens „Hallelujah“ – populär geworden zuletzt durch eine berückende Version von Jeff Buckley – ein: „But you don’t really care for music, do you?“. Kitsch, eventuell. Aber ich liebe Kitsch. Es ist das billigere Opium für das Volk der Rührseligen. Wer Kitsch für das Gegenteil von Kunst hält, hat eventuell recht. Ich misstraue aber den Kategorien per se.
Meine persönliche Erfahrung in Sachen Musik, ja Kunst schlechthin, ist: nicht das, was sich sofort erschliesst, sich ranschmeisst und aufreizend anschmiegt, erweist sich langfristig als Gewinn. Spricht das gegen die Masse, wider Popularität, gegen Charts? Das „Hit“-Prinzip, so sehr ich es respektiere, enthält (oft, nicht immer) zuviele Geschmacksverstärker und künstliche Süßstoffe. Verlangt einen nach Mehr, nach Gehalt, nach dauernder Gültigkeit und nachhaltigem Genuß, gilt es, Widerstände zu überwinden, innere Abwehr, sogar offensive Ablehnung. Gerade diese Ausgangssituation schlägt oft in Faszination um. Und ein Verlangen nach Mehr. Nicht immer, aber Qualität ist keine Frage von Masse und Häufigkeit. Das gilt für Pop genauso wie für Jazz, Techno oder Neue Musik. Hätte ich nicht mit zwölf Jahren die Beatles auf mich wirken lassen (ok, zugegeben, auch Suzi Quatro und Gary Glitter), mit fünfzehn Jahren Led Zeppelin, Pink Floyd und Neil Young, mit siebzehn Jahren King Crimson und „Close To The Edge“ von Yes, mit neunzehn Kraftwerk, Fehlfarben oder „Sandinista“ von The Clash oder mit zwanzig Sun Ra, Mozarts „Requiem“ oder „A Love Supreme“ von John Coltrane, könnte ich nicht heute auf ein weitgefächertes, reiches Erfahrungs- und Erkenntnisspektrum zurückgreifen. Und ich schäme mich auch nicht für Abba, Slade, Manfred Mann’s Earth Band, Genesis, The Police, Falco, Wolfgang Ambros, Wham oder Madonna. Gewiss nicht.
Aktuell liegt gerade Wolfgang Mitterers „Music For Checking e-mails“ in meinem CD-Player. Und, ja, das ist gute Musik (obwohl mich meine Freundin gerade frägt, ob ich sie damit „nun endgültig in den Wahnsinn treiben will“.) Ob das nun Avantgarde, Pop, Neue Klassik, U- oder E-Musik, Ambient, Jazz oder Elektronik-Crossover ist, ist mir egal. Und ob Matthias Rüegg sie schätzt oder verdammt, auch.