Listen!

21. Dezember 2009

Alle Jahre wieder: noch vor Silvester muss die Ernte des Jahres eingefahren werden. Und gesichtet. Und bewertet. Anfang nächsten Jahres erscheint dann das Substrat des Pop-Jahrgangs 2009 (oder die Essenz der kompletten Nullerjahre), fein säuberlich versammelt und durchnummeriert, als „Best Of“-Liste. Auf Papier. Im Web. Und als CD-Stapel neben der Stereoanlage.

Ich habe alle Fristen verstreichen lassen. Jetzt, knapp vor Jahresende (und erst recht vor dem Ende eines Jahrzehnts, der sog. Nullerjahre) häufen sich obligaterweise die Anfragen. Man möge doch die besten Alben der letzten zwölf Monate (respektive der letzten zehn Jahre) benennen. Die besten Songs. Die wichtigsten Ereignisse. Die wesentlichen Austro-Künstler. Die nachhaltigsten Erfolge. Die prägendsten Kunst-Werke. Die einschneidendsten Erlebnisse, Erkenntnisse, Erfahrungen. Die Essenz eines Jahrzehnts. Und so weiter. Und so fort.

Vor einigen Tagen etwa trudelte die Anfrage nach einer Auflistung der persönlichen Top 10 CDs, Songs, Videos ein, gestellt von einer nicht ganz unwichtigen, aber auch nicht gänzlich unentbehrlichen Pop/Kultur-Gratis-Gazette. Die Antwort, die ich immerhin rudimentär skizziert habe, liegt immer noch im „Entwürfe“-Fach meines Mail-Programms. Die – eh generös verlängerte – Frist ist verstrichen. Der Redaktionsschluß hat das Begehren mit der Feinfühligkeit einer Guillotine von seiner Realisierung getrennt.

Ich muß zugeben: mehr nachgedacht als über Antworten auf all die Fragen habe ich über eine einzelne Frage. Die Frage, warum mir diese „Best Of“-Listen-Manie zunehmend auf den Keks geht. Und weil ich nicht ganz unhöflich sein und als überheblicher Frist-Verstreichen-Lasser und Keine Antwort-ist auch-eine Antwort-Autist gelten will, mögen diese Zeilen ihren Empfängern eines signalisieren: eine progressive Distanz zum allgemeinen Jahreskehraus-Brauch.

Warum der Überdruß? Ich will, neben allgemeinem Zeitmangel (ich komm‘ ja nicht mal mehr richtig dazu, persönliche Lieblingssong-Kollektionen für Freunde zusammenzutragen und rund um Weihnachten auf CD zu brennen oder auch nur zum Download bereitzustellen), dafür drei Gründe anführen. Hier gleich der erste: was mich seit Jahren, nein, Jahrzehnten verblüfft, ist der weitgehende Gleichklang der „Best Of“-Guides weltweit. Egal, ob Alternative Rock, World Music oder elitäre Elfenbein-Elektronik, egal ob NME, Spex, Rolling Stone Magazine oder Uncut, FM4, Der Standard, Die Presse, The Gap oder TBA – all die Schreiber, Hörer, Kenner in all den Redaktionen rund um den Globus scheinen aus einem Fundus von höchstens 300, vielleicht 500 potentiellen „Alben des Jahres“ zu schöpfen. Dabei erscheinen weltweit, pardon, zigtausend mehr interessante Werke, von den Myriaden an tatsächlich uninteressanten zu schweigen. Natürlich kann man da keinen wirklichen Überblick haben. Aber warum tut man dann so?

Der alljährliche Kanon der Kritiker-Lieblinge, meist vorhersehbar, konservativ und langweilig wie die österreichische Innenpolitik, nährt einen, meinen immer schon gehegten Verdacht: Journalisten schreiben gern voneinander ab. Und wir alle kennen die Meinungsführer, Leitmedien und Opinion Leader. Hintendrein hampeln und humpeln die Nachbeter, Popkultur-Ministranten und Listen-Apostel. Klar: die Börsenkurse im Live-Markt und im CD-Geschäft werden davon massgeblich (mit) beeinflusst. Aber, sorry, auf meine subjektiven Kursnotierungen hat der Sermon kaum einen Einfluss. Außer vielleicht den, gelegentlich eine Art Post It!-Funktion („Ah, sollte ich mir bei Gelegenheit mal anhören…“) zu erfüllen.

Zweitens, und das erscheint mir ein weit maßgeblicherer Impuls für eine abschlägige Handbewegung zu sein: all diese Listen, „Best Of“-Wahlen und „Top 10“-Pyramiden kommen meist ohne Begründung daher. Einfach so. Platz 100 bis 1, schmecks! Siegertreppchen für Fanboy-Teppchen. Erst heute wieder habe ich mit einem Freund über die Jahresbestenliste des englischen Avantgarde-Magazins „Wire“ gerätselt. Angeführt wird der „Rewind 2009“ von Broadcast & The Focus Group mit dem Album „Investigate Witch Cults of the Radio Age“. Hab‘ ich – zu meiner Schande? – nie zuvor gehört, vor allem das genannte Album (gilt es, das Interesse ist geweckt, nachzuholen), mein Freund aber schon. Sein Kommentar „Eh nicht schlecht, aber warum zur Hölle soll das das beste Album des Jahres sein? Weltweit?“. Die Antwort kann ihm vielleicht das Magazin selbst liefern. Denn, soviel Fairness muß sein: „The Wire“ hat „writers‘ and musicians‘ reflections and discussions of the state of the art in sound“ in Aussicht gestellt. Online ist der Teaser, das Heft am Kiosk dann der Pleaser.

Aber genau das gilt für viele Magazine nicht: sie liefern endlose Listen ohne Begründungen, ohne (oder nur mit flapsigen, lapidaren) Kommentare(n), ohne begründete und/oder nachvollziehbare Bewertungen. Und genau das wäre die wesentliche Aufgabenstellung für jeden ernsthaften Journalisten, Jury-Beisitzer und Kultur-Kommissar: sachliche, fachliche, kompetente Anhaltspunkte für Reihungen, Wertungen und olympische Ränge zu liefern. Oder meinetwegen auch unsachliche, aber zumindest strikt kurzweilige und unterhaltsame. Ohne erläuterndes Wortbeiwerk sind diese ganzen „Best Of“-Schauen zum Krenreiben.

So. Damit noch ganz kurz zum dritten und letzten Punkt meines Absageschreibens. Es ist eine Frage grundsätzlicher Philosophie. Ich bin, je länger ich im Spannungsfeld zwischen Kunst, Kultur, Showbusiness, Medien und Social Media unterwegs bin (und das sind nun doch schon einige Jährchen), immer überzeugter davon, daß man künstlerischen Hervorbringungen jeglicher Art nicht einen „Höher, Schneller, Weiter“-Raster anlegen sollte. Kunsthandwerk, meinetwegen. Charts, ok. Verkaufszahlen, einigermassen objektiv (aber natürlich vielfach auch nur ein Maßstab für Marketing-Etats und PR-Manipulation). Soll alles sein. Ich kann mich diesem System auch nicht – oder nur mit Mühe – entziehen. Aber Kunst, und ich nehme dieses Wort ohne Ironie oder gar Zynismus in den Mund, kann nicht (oder zumindest nicht ausschliesslich) dem Imperativ des Marktes gehorchen. Das verbietet, einer strengen Logik folgend, „Best Of“-Wertungen. Natürlich nicht höchstpersönliche, höchst subjektive, rein privatistische. Niemand wird einem spezielle Lieblinge ein- oder ausreden können. Und jeder/m steht es frei, individuelle Favoriten weiter zu empfehlen. Mit welcher Form zusätzlicher Aufladung auch immer – sei es ein quasi-journalistischer Fingerzeig, eine Empfehlung unter Freunden, mystisches Raunen („Dieses Album wird Dein Leben verändern!“) oder seitenlange Episteln mit höchst vertrackten Theorien und Gedankensubstraten, eventuell sogar in Buchform.

Warum aber die Summe subjektiver Wertungen letztlich eine objektive ergeben soll, will mir nicht einleuchten. Ausser vielleicht als Signal allgemeiner grosser Beliebtheit. Und als Dokument einer ewigen Wechselwirkung zwischen Kritikerkanon, Mundpropaganda, Hype, Mode, Verkaufszahlen, Charts und Jahres-Ranglisten. Wenn aber für die Masse der Bevölkerung der Spruch gilt, daß sich eher Mediokres durchsetzt als erratische Qualität, eher Banales als Extremes, mehr leicht zugängliches Mittelmaß als hart zu erarbeitende Avantgarde – warum sollte das nicht auch für die Experten, die Nischenkundigen, die Opinion Leader, die Die Hard-Fans gelten? Der Durchschnitt einer Teilmenge unterscheidet sich im Prinzip nicht vom großen Ganzen (zumindest meine ich mich vage an ein so lautendes Gesetz der Mathematik, Unterabteilung Statistik, erinnern zu können). Und damit kann mir die Listen-Manie, überleg‘ ich’s mir recht, wirklich gestohlen bleiben.

(Unter uns: ich finde sie eh kurzweilig. Aber ich hatte heuer echt keine Zeit für derlei Kram.)

6 Antworten to “Listen!”


  1. Gibt es ein Leben jenseits der Quote? Ich behaupte: Ja! Und es ist absolut lebenswert :-)


  2. Um bei den Absätzen 4 sowie 6/7 kurz mal einzuhaken: In der aktuellen Ausgabe der Spex finden sich (wie in den beiden Vorjahren) die Alben- und Single-Listen der Redaktion mit begleitenden Kommentaren zu den einzelnen Platten/Songs. Der ganze Rest des Textes erfährt seine tiefergehende Lektüre dann über die Feiertage, liegt ausgedruckt auf dem „Lesen“-Stapel.

  3. Receiver Says:

    Ja, das seh ich auch so, zuzüglich einer gewissen Irritation über die Listenhuberei als Form der Selbstdarstellung der Beteiligten. Da ließen sich ganze Psychogramme verfassen über die richtige Mischung aus Obskurem und Konsens, weil man gleichzeitig Allein- und Besserwisser aber auch nachträglicher Opinion Leader gewesen sein will

    Schöne Weihnachten
    R


  4. […] Heissa!, jetzt bricht wieder der Rummel mit den Jahres-Bestenlisten los. Die beste CD-Veröffentlichung, das lesenswerteste Buch, die grösste Enttäuschung unter den Produktnovitäten, die dringlichste Empfehlung für den Weihnachtsgabentisch. Und so weiter und so fort. Die übliche Jahresausklangs-Folklore für Journalisten und Konsumenten. Da die Halbwertszeit der – mehr oder minder nachvollziehbar begründeten, manchmal auch nur apodiktisch verkündeten – Urteile aber immer kürzer wird, hebt die Rückschau tendenziell immer früher an (ganz unabhängig von jenen Narren, die uns im Jänner weismachen wollen, sie hätten definitiv schon „das Album des Jahres“ ausgemacht… Ich hab’ zu derlei Unfug sowieso eine ganz eigene Meinung). […]


  5. […] Höre ich da irgendjemanden im Hintergrund murmeln, derlei wäre illegal? Von wegen Kopierschutz und Copyright und…? Sorry, das ist natürlich engstirniger Unsinn. Formal – ich bin kein Jurist, glauben Sie mir einfach –, und dem Sinn nach erst recht. Selbst als mich Freund S. vor Jahren in einer „Kurier“-Kolumne öffentlich outete als jemand, der – noch dazu als Musikindustrie-Heini! – gut und gern zwanzig selbst erstellte Jahres-CDs verschickt, blieb das grosse Aufheulen aus. Warum? Weil die „Privatkopie“ nie privater ist als in einem Kontext aus Tannenduft, Geschenkpapierrascheln und frohen Wünschen für ein gutes neues Jahr. Weil es wohl letztendlich gar keine bessere Werbung für Musik gibt als persönliche Empfehlungen und Fingerzeige. Und weil Hören allemal mehr bringt als Reden oder Schreiben. […]


  6. […] nicht gar zu griesgrämig zu klingen: die häppchenweise Darreichung von Momenten der Besinnung und Nachbetrachtung und mehr […]


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